„Kennen Sie die 1-Meter-Regel?“ Mit diesen Worten begann der Geschäftsführer eines bekannten niederländischen Unternehmens vor ca. 10 Jahren seinen Vortrag. Ich arbeitet damals noch bei einem Großhandel in der Food Branche und der besagte Geschäftsführer hielt als Gastredner einen Vortrag. Er hatte einige Jahre zuvor den Auftrag bekommen, die Niederlassung in Deutschland wieder gewinnbringend zu machen, nachdem diese seit mehr als einem Jahrzehnt immer mehr an Marktanteil verloren hatte.
Zu viele Eskalationsstufen bremsen Lösungen
Bei seiner Analyse hatte er festgestellt, dass eines der Hauptprobleme die Tatsache war, dass Probleme zwar beim mittleren Management angesprochen wurden, diese dort aber im Normalfall nicht gelöst wurden. Stattdessen diskutierte ein Manager das Problem normalerweise mit seinem Vorgesetzten, der es wiederum mit seinem Vorgesetzten besprach. Und nach mehreren Eskalationsstufen wurde dann auf einer sehr hohen Managementebene, die logischerweise sehr weit vom Problem entfernt war, eine Lösung gesucht. Diese Lösung wurde dann über die verschiedenen Managementebenen nach unten weitergereicht.
Verständlicherweise waren die so getroffenen Entscheidungen bzw. Lösungen in vielen Fällen, gelinde gesagt, „praxisfremd“. Das dürfte eigentlich auch keinen wundern, denn sie wurde von Leuten getroffen, die sehr weit weg waren. Und die Managementebenen zwischen Problemeigentümer und Entscheider konnten sich bei eventuellen Fragen herausreden mit der Bemerkung, dass die Lösung von denen da oben komme und dass sie selber das nicht entschieden hätten.
Wer nah am Problem ist, ist auch nah an der Lösung
Der im ersten Absatz erwähnte Geschäftsführer hatte eine kreative Idee diese Vorgehensweise zu ändern. Er erfand kurzerhand die „1-Meter-Regel“. Diese beinhaltete sinngemäß, dass jemand, der sich innerhalb eines Meters von einem Problem befände, vermutlich eine sinnvolle Idee habe wie man dieses Problem lösen könnte. Und er dürfe daher auch nur mit diesem Problem zu seinem Vorgesetzten gehen, wenn er neben der Problembeschreibung auch einen Lösungsansatz mitbringen würde. Der Vorgesetzte sollte also nicht nur mit dem entsprechenden Problem konfrontiert werden, sondern auch mit einer konkreten Idee, wie man es lösen könnte. Außerdem entschied der Geschäftsführer, dass ein Problem maximal eine Managementebene nach oben eskaliert werden dürfe.
In diversen Managementsitzungen und einem Video an alle Mitarbeiter erläuterte er seine Philosophie. Und um der Sache Nachdruck zu verleihen, ließ er für jeden Mitarbeiter einen Zollstock anfertigen, der genau 1 Meter lang war. Auf der Seite war der Text „Ich entscheide“ gedruckt. Außerdem garantierte er, dass er für diese Vorgehensweise geradestehen würde bei der Konzernzentrale, falls seine Idee keine Früchte tragen sollte.
Anfangs taten viele Mitarbeiter sich mit dieser neuen Vorgehensweise schwer: Auf einmal wurde erwartet, dass man mitdenkt. Viele Mitarbeiter kannten das nicht. Aber mit der Zeit gewöhnten sich die Mitarbeiter daran, was zu einer großen Flut an Entscheidungen und Verbesserungen führte. Die Problemeigentümer fühlten sich erhört, Entscheidungen wurden über kürzere Dienstwege getroffen und dass Topmanagement wurde viel weniger „belästigt“ mit Themen, die eigentlich auch auf anderen Ebenen entschieden werden konnten. Natürlich waren bei den viele Entscheidungen auch welche dabei, die (im Nachhinein) nicht so günstig waren. Aber im Wesentlichen war diese Vorgehensweise ein großer Erfolg. Und innerhalb von noch nicht mal 15 Monaten schaffte das Unternehmen den Turnaround und wurde profitabler als jemals zuvor.
Die Kombination aus Fernglas und Lupe macht’s
In meiner Zeit als Abteilungsleiter habe ich versucht, die Worte des besagten Geschäftsführers zu beherzigen und meine Mitarbeiter nach Ihrer Einschätzung zu fragen. Und obwohl auch bei meinen Mitarbeitern nicht immer nur gute Ideen dabei waren, habe auch ich sehr gute Erfahrungen gemacht mit der „1-Meter-Regel“.
Bevor Sie jetzt eventuell vorschnell auf den Gedanken kommen, dass man bei einer konsequenten Durchführung der 1-Meter-Regel auf externe Berater verzichten könne, muss ich Sie natürlich darauf hinweisen, dass ein gesunder Abstand zu einem Problem auch zu neuen Lösungsansätzen führen kann. Außerdem können die Erfahrungen der Berater aus anderen Projekten und Firmen sehr hilfreich sein, mal eine komplett andere Perspektive zu erhalten. Obwohl es eventuell paradox klingt: Ein gesunder Abstand zu einem Problem kann hilfreich sein, aber eine gesunde Nähe sicherlich auch.
Denken Sie im wohlverdienten Urlaub mal darüber nach…
Herzliche Grüße
Ihr Dirk Ungerechts