von Burkard J. Kiesel1, Peter Kluge2, Andreas Gillessen
Mit der Einführung der Kanban-Steuerung für die Produktion der Komponenten sowie das JIT-Prinzip für die Montage der Endgeräte der Schreibgerätefamilie Bohème im März 2003 legte Montblanc die Basis für eine verbesserte Lieferbereitschaft, verkürzte Durchlaufzeiten und reduzierte Lagerbestände. Das gesamte Bestandssenkungspotenzial beläuft sich auf 48 % des zu Projektbeginn vorhandenen Bestandswertes. Aufgrund des erfolgreichen Anlaufs dieses Projektes wird ab sofort auch die Schreibgerätefamilie Meisterstück umgestellt. Aus Projektmanagementsicht verlief die “Live-Schaltung” von Kanban besonders reibungslos. Im Betrieb überzeugt die speziell für Montblanc entwickelte Lösung durch ihre Einfachheit und Transparenz für jeden Mitarbeiter.
Nachdem Montblanc mit Unterstützung von Abels & Kemmner im vergangenen Jahr den Absatzplanungsprozess von der Budgetplanung über den Forecast-Prozess bis hin zur rollierenden monatlichen Bedarfsplanung einem Reengineering unterzogen hatte (siehe Potenziale Ausgabe 1/2002), stand die Sicherstellung der Lieferbereitschaft des Zentrallagers Hamburg sowie die Reduzierung der Durchlaufzeiten und der Lagerbestände auf dem Projektplan. Aufgrund der hohen Fertigungstiefe, der langen Wiederbeschaffungszeiten und der großen und ständig wachsenden Variantenvielfalt sollten durch den Aufbau dezentraler organisatorischer Regelkreise effiziente Wertschöpfungsketten aufgebaut werden, die das Versorgungsrisiko auf allen Produktionsebenen auf ein Minimum reduzieren. Die eingesetzte MRPII-Logik (siehe Grafik), mit ihrem sehr hohen Koordinationsaufwand, lieferte dafür jedoch keine zufriedenstellenden Ergebnisse. Der bisherigen Vorgehensweise mangelte es an Flexibilität, insbesondere bei kurzfristigen Bedarfsschwankungen einzelner Endprodukte. Um die Lieferbereitschaft am Markt sicherzustellen,waren überhöhte Lagerbestände in der gesamten Wertschöpfungskette bis zum Fertigwarenlager notwendig.
Der wesentliche Hebel zur Verbesserung der Lieferbereitschaft bei gleichzeitiger Reduzierung der Lagerbestände lag bei Montblanc im Aufbau einer JIT-Fertigung und damit in einer Verlagerung der Bestände vom variantenreichen Endgerät auf die variantenbildende Komponentenebene. Die Analyse der Durchlauf- und Rüstzeiten hatte ergeben, dass eine JIT-Fertigung ohne größere Kosten möglich war. Die Einrichtung einer JITFertigung setzt jedoch die sichere Versorgung der Endmontage mit Komponenten und Zukaufteilen voraus. Daher wurde ein zentrales Kanban-Lager vor der Endmontage aufgebaut sowie weitere Kanban- Lager vor verschiedenen vorgelagerten Produktionsstufen. Derzeit werden nach und nach auch die Lieferanten in das System eingebunden.
Dank der präzisen Auslegung des Kanban-Systems und durch die intensiven und gründlichen Vorarbeiten konnte die “Live-Schaltung” auf das Kanban-System ohne Probleme erfolgen. Innerhalb von nur drei Tagen war die sorgfältig vorbereitete Umstellung realisiert. Da Kanban-Systeme selbststeuernde Systeme sind, die vom Grundsatz her kein zusätzliches IT-System für die Produktionssteuerung erfordern, wurde das Kanban-System bei Montblanc so konzipiert, dass die Produktion auch ohne das im Einsatz befindliche SAPSystem laufen kann. Gleichzeitig wurden die SAP-Prozesse so umgestaltet, dass sie die Abläufe des Kanban-Systems nicht durch zusätzlichen Verwaltungsaufwand behindern. Die Mitarbeiter eröffnen lediglich zu Beginn der Produktion einer Losgröße einen Fertigungsauftrag und melden diesen nach Beendigung auch wieder zurück. Es sind keine weiteren SAP-Prozesse notwendig. Alle Bestands- und Umlagerungsbuchungen erfolgen bereits automatisiert im Hintergrund. In den nächsten Wochen wird das Kanban-System noch enger mit dem SAP-System verknüpft werden. Zu diesem Zweck wird die SAP-eigene Kanban-Steuerung eingeführt. Die Auftragseröffnung und -schließung erfolgt zukünftig automatisch durch das Scannen der Barcodes auf den Kanban-Karten. Dies alles hört sich sehr leicht an. Es waren jedoch viele Details zu beachten, um das Kanban-System erfolgreich einzuführen.
Einrichtung des Just-in-time-Prinzips (JIT) in der Endmontage
Aufgrund der geringen Rüstzeiten und der kurzen Durchlaufzeiten können in der Endmontage Schreibgeräte in kleinen Losen montiert und kurzfristig zur Nachbevorratung an das Zentrallager weitergeleitet werden. Dies waren die entscheidenden Voraussetzungen, um eine Einführung des JIT-Prinzips in der Endmontage zu ermöglichen. Das Komponentenlager zur Versorgung der Endmontage wurde dafür als Kanban-Lager ausgelegt, damit eine immer ausreichende Bestückung mit Komponenten gewährleistet ist. Die Montageauslösung für die Endgeräte erfolgt dabei direkt auf Basis von Kundenaufträgen oder auf Basis der Absatzplanung zur Wiederauffüllung des Zentrallagers. Durch diese Vorgehensweise wurde es möglich, die verstärkte Lagerhaltung weg vom Endgerät und zurück auf eine geringere Wertschöpfungsstufe zu verlegen (Komponenten statt Endgeräte).
Durch die Versorgungssicherheit mit Komponenten in der Endmontage kann jetzt auch kurzfristig auf Änderungen der Marktnachfrage reagiert und diese auch bedient werden. Darüber hinaus wurde durch die Verlagerung der Lagerhaltung auf eine geringere Wertschöpfungsstufe, vor allem aber vor die eigentlich variantenbildende Produktionsstufe, ein höherer Lieferservice bei gleichzeitig stark reduzierten Lagerbeständen möglich. Zusätzlich konnte durch die eng an die Kundennachfrage bzw. Absatzplanung angelehnte Montage der Endgeräte, der Nachschubaufwand der vorgelagerten Produktionsbereiche stärker harmonisiert und damit vorhandene Versorgungsengpässe in der Vorfertigung reduziert werden.
Vom Push- zum Pull-Prinzip
Bei Kanban darf nur nachproduziert oder nachgeliefert werden, wenn ein Verbrauch einer bestimmten Menge, eines bestimmten Artikels an einer bestimmten Stelle stattgefunden hat. Als Informationsträger zur Kommunikation zwischen dem produzierenden und dem abnehmenden Bereich dienen hierbei Karten (Kanban) oder die Produktionsbehälter selbst. Material wird damit nur dem tatsächlichem Verbrauch entsprechend nachgezogen. Kanban ist einfach, es fordert und fördert die eigenverantwortliche Steuerung produzierender Einheiten und schafft Transparenz über Verbrauch und Bestände.
Fordert die nachgelagerte Wertschöpfungsstufe (Kunde) bei der vorgelagerten Wertschöpfungsstufe (Lieferant) per Kanban TeiIe an, ist letztere für die richtige Nachlieferung, insbesondere hinsichtlich Zeitpunkt, Menge und Qualität der Teile an den Verbraucher (Kunde) verantwortlich. Diese Umstellung bedurfte zuerst einer organisatorischen Veränderung in den betroffenen Produktionsbereichen. Hierzu wurde für jeden einzelnen Produktionsbereich ein organisatorisches Regelwerk aufgebaut, das das Steuerungsverhalten entsprechend der jeweiligen Bestandsgrenzen definiert. Kleinere Ausschussmengen werden durch die verfügbaren auftragsunabhängigen Kanban-Puffer ausgeglichen, so dass die gewünschte Auftragsstückzahl jeweils bedient werden kann. Ebenso werden Bedarfsschwankungen (in gewissen Grenzen) dynamisch durch ein schnelleres bzw. langsameres Zirkulieren der Kanban-Karten und -Behälter ausgeglichen. Durch die gezielte Anordnung der Kanban-Puffer vor variantenbildenden Fertigungsschritten sowie auf Stufen mit geringer Wertschöpfung konnten zusätzlich die Fertigungskapazitäten entlastet sowie die Lagerbestände reduziert werden.
Bei Montblanc ist das Haupt-Kanban-Lager vor der Endmontage angesiedelt. Darüber hinaus gibt es weitere Kanban-Lager in vorgelagerten Produktionsbereichen. Die Mitarbeiter der Endmontage entnehmen aus dem Kanban-Lager ihre Komponenten entsprechend den SAP-Fertigungsaufträgen. Bei den Waren handelt es sich um sogenannte Steckware die in Styroportrays gelagert wird oder um Schüttgutware. Für die Schüttgutware dient ein Rollenlager als Kanban-Lager. Wird ein Behälter leer, wirft der Mitarbeiter die Kanban-Karte in einen sogenannten Kanban-Briefkasten. Der Kanban-Transport sucht die Produktionsbereiche 3 bis 4 mal täglich auf, um die Kanban-Karten zuzustellen bzw. abzuholen und die vollen Kanban-Behälter in die anderen Produktionsbereiche bzw. in die Endmontage zu transportieren.
Die Produktionsbereiche wurden mit der größtmöglichen Flexibilität im Rahmen der definierten Kanban-Spielregeln ausgestattet. An diese Regeln muss sich jeder Mitarbeiter halten. Dies erfordert zwar ein hohes Maß an Disziplin von allen Beteiligten, stellt erfahrungsgemäß jedoch selten ein Akzeptanzproblem dar, da in einem sauber gestalteten Kanban-System den Mitarbeitern die Zusammenhänge klar sind und damit die Notwendigkeit der Spielregeln verständlich ist. Die Flexibilität der Produktionsbereiche wird über “Ampelfunktionen” gewährleistet. Die umlaufenden Kanban-Karten werden von den Mitarbeitern des Kanban-Transports den Produktionsbereichen zugestellt. In der Kanban-Tafel hat jede Komponente einen grünen, gelben und roten Bereich. Befinden sich die Kanban-Karten im grünen Bereich, darf mit der Produktion nicht begonnen werden. Erst wenn der gelbe Bereich erreicht wird, ist es dem Bereichsverantwortlichen überlassen zu entscheiden ob er produzieren möchte oder nicht. Wird der rote Bereich jedoch erreicht, muss mit der Produktion begonnen werden. Über diese “Kann”- und “Muss”-Grenzen steuern die Produktionsbereiche ihre Kapazitäten. Diese Bereichsgrenzen geben den Produktionsbereichen die Möglichkeit, den Zeitpunkt und die Menge der Nachlieferung selbst zu bestimmen. Sie eröffnen Flexibilitäts- und Optimierungsspielräume für die Produktionsbereiche. Zur Auslegung dieser Bereiche wurden alle fertigungsrelevanten Parameter wie Behältermenge, Anzahl Teil je Behälter, Mindest- und Maximalfertigungslosgrößen, Vorlauf-, Rüst-, Produktions- und Transportzeiten sowie Ausschussmengen, Fertigungslosgrößen der Kunden, etc. berücksichtigt.
Durch die vorhandene Flexibilität bei der Produktionsplanung wird das Versorgungsrisiko der nachgelagerten Bereiche minimiert. Darüber hinaus werden rüstoptimale Reihenfolgeplanungen möglich sowie durch die eigenverantwortliche Selbststeuerung der Mitarbeiter Produktivitätspotenziale freigelegt.
Zugeständnis für mehr Transparenz
Eine Kanban-Steuerung eignet sich am besten für Artikel mit regelmäßigem Verbrauch (XY- Komponenten). Die Analyse der Bewegungsdaten auf Komponentenebene bei Montblanc ergab, dass mit Ausnahme einiger weniger Komponenten (z. B. große Federaggregate) alle Komponenten ein für die Kanban-Steuerung geeignetes Verbrauchsverhalten aufwiesen. Übrig blieben jedoch Z und Z2-Komponenten mit sporadischem Verbrauchsverhalten, für die eine Kanban-Steuerung nicht die effizienteste Lösung ist. Damit das Gesamtsystem jedoch einfach und mit geringem Koordinationsaufwand aufgebaut und geführt werden kann, wurden auch diese Komponenten auf Kanban umgestellt. Diese schwer bis gar nicht zu prognostizierenden Komponenten wurden mit einem höheren Sicherheitsbestand ausgestattet, um die benötigte Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Rein rechnerisch wurde so zwar nicht der optimale Lagerbestandswert erreicht, die Vorteile der transparenten Planung überwogen hier jedoch gegenüber einem minimalen Lagerbestand: Der Verwaltungs- und Steuerungsaufwand bleibt überschaubar und zusätzlich sinkt das Fehlmengenrisiko durch nicht rechtzeitige Auslösung neuer Fertigungsaufträge, was die Produktion zusätzlich beruhigt und letztlich die Qualität sichert.
Kanban und das Einkaufsmanagement
Die Einführung von Kanban mit externen Lieferanten unterscheidet sich bei Montblanc aus Sicht des Abnehmers nur dadurch, dass Externe in einen Regelkreis eingebunden sind. Bei der Einbindung externer Lieferanten bietet es sich an, immer das gesamte Artikelspektrum über Kanban zu steuern, damit nicht unterschiedliche Steuerungsmechanismen parallel existieren. Folglich ist die Auswahl kanban-geeigneter Artikel immer auch mit der Auswahl geeigneter Lieferanten gekoppelt. Bei Montblanc wurden alle Lieferanten, die nur einige wenige, meist zudem noch geringwertige Komponenten liefern, nicht auf das Kanban-System umgestellt. Die Nachbestellungen bei diesen Lieferanten werden über ein Meldebestandsverfahren gesteuert, um auch hier das Pullprinzip aufrechterhalten zu können und nicht auf das Push-Prinzip der klassischen MRPII-Logik umstellen zu müssen.
Bei den anderen Lieferanten ist die Umstellung auf das Kanban-System noch nicht abgeschlossen, da die Prozessstabilität/-qualität bei diesen Lieferanten noch unzureichend ist und nicht durch erhöhten Wareneingangsprüfaufwand seitens Montblanc “erkauft” werden soll. Daher läuft z. Z. ein Lieferantenqualifizierungsprojekt. Wenn dieses erfolgreich umgesetzt ist, werden die ausgewählten Lieferanten mit einer Prozessstabilität und -qualität liefern, die eine Wareneingangsprüfung seitens Montblanc vollständig erübrigt. Die ersten Lieferungen unter den mit den Lieferanten gemeinsam erarbeiteten Anforderungen sind bereits erfolgt. Nun stehen die ersten Umstellungen auf das Kanban-System an.
Zusätzlich zur Prozessstabilität trat das Problem der langen Wiederbeschaffungszeiten einiger Lieferanten auf. Die Wiederbeschaffungszeiten (WBZ) wurden systemseitig vielfach zu großzügig eingestellt, was zwangsläufig zu Überbeständen führte. Die Reduzierung der Wiederbeschaffungszeiten und der Losgrößen ist jedoch neben der Verschiebung der Lagerbestände in vorgelagerte Produktionsstufen ein weiterer zentraler Hebel zur Senkung der Bestände und Bestandswerte. Sie wurden deshalb überarbeitet und konnten in den meisten Fällen ohne große Verhandlungen mit den Lieferanten verkürzt werden. Eine weitere Reduzierung der WBZ und der Losgrößen wird daher die Aufgabe der nächsten Monate sein.
Um die Prozesse der externen Materialbeschaffung weiter zu verschlanken, werden darüber hinaus z.Z. mit den Lieferanten Rahmenvertragsvereinbarungen abgeschlossen. Die Disposition wird zukünftig aus diesen Verträgen nur noch die Kanban-Bedarfe abrufen. Um den Lieferanten auch eine optimale Produktionsplanung und -steuerung zu ermöglichen, werden diese zusätzlich in die Absatzplanung von Montblanc integriert.
Umsetzung und Einführung
Die Einführung von Kanban begann mit einer Änderung der Arbeitsweise und des Verhaltens der beteiligten Mitarbeiter bei Montblanc. Dies bedingte allein schon die Dezentralisierung der Produktionssteuerung zurück in die einzelnen Produktionsbereiche. Eine wesentliche Ursache für die Probleme vieler Unternehmen bei der Einführung von Kanban-Systemen liegt darin, dass die Mitarbeiter nicht bereit sind, die Kanban-Regeln einzuhalten. Sie fertigen auf Vorrat, bunkern Komponenten, halten Losgrößen oder Durchlaufzeiten nicht ein. Sind die Mitarbeiter vom System nicht überzeugt, halten sie dessen Regeln nicht ein und bringen das System damit zum Scheitern. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor der Kanban-Einführung bei Montblanc war daher die Integration der Mitarbeiter in die Systemkonzeption. Alle organisatorischen Abläufe wurden gemeinsam mit den Mitarbeitern der jeweiligen Produktionsbereiche erarbeitet. Auf diese Weise konnte das Vertrauen der Mitarbeiter in das Konzept und das Verständnis bzw. die Identifikation mit den Gesamtabläufen und den Detailabläufen der jeweiligen Produktionsbereiche geschaffen werden.
In der Praxis erleben viele Unternehmen während der Einführungsphase aber auch deshalb ein Desaster, weil das System nicht an die Realität der Produktionsabläufe angepasst wurde. Bei Montblanc wurden deshalb vor der eigentlichen Dimensionierung der Regelkreise, alle relevanten Material-, Informations- und Auftragsabwicklungsprozesse aufgenommen und mit den Mitarbeitern der Produktionsbereiche neu auf die Anforderungen der Kanban-Abläufe zugeschnitten. Dabei wurden die Prozesse jeweils unter folgenden Aspekten betrachtet:
- Ist ein Flussprinzip über die Produktionsbereichsgrenzen möglich, ohne ein Kanban-Lager einzurichten?
- Wenn ein Kanban-Lager unabdingbar ist, kann es auf einer geringeren Wertschöpfungsstufe bzw. vor einer variantenbildenden Produktionsstufe eingerichtet werden?
- Können die Produktions- und die Rüstzeiten sowie die Losgrößen reduziert werden?
- Ist die Prozessstabilität ausreichend um die Produktionszeiten zu garantieren und ist die Prozessqualität beherrschbar?
- Ist die Kapazitätssituation (Mitarbeiter / Maschinen) ausreichend bzw. ausreichend flexibel um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten?
- Sind die Disziplin und die Qualifikation der Mitarbeiter hinreichend für die Führung des Kanban-Systems?
Alle identifizierten größeren Reorganisationspotenziale wurden dabei bewusst auf den Zeitpunkt nach Einführung der Kanban-Steuerung verlegt. Dies war zum einen sinnvoll, weil erst nach der Kanban-Einführung erste Erfahrungen mit dem neuen System im Echtbetrieb gemacht werden können und diese entscheidenden Einfluss auf die Fragestellung haben, wie die Abläufe verändert werden können und sollten. Hierdurch wird darüber hinaus auch Doppelarbeit vermieden. Zum anderen sollte die Umstellung auf Kanban nicht durch andere Reorganisationsprojekte verzögert werden.
Wie bereits erläutert erfordert der Einsatz eines Kanban-Systems eine umfassende Qualifikation und hohe Disziplin der Mitarbeiter (und der externen Lieferanten!). Sie tragen im Rahmen des Kanban-Systems die Verantwortung für die termin- und qualitätsgerechte Bereitstellung der Komponenten. In dieser Erhöhung der Selbststeuerungskompetenz der Mitarbeiter liegt der eigentliche Grund für die erhebliche Reduzierung des Steuerungs-, Koordinations- und Buchungsaufwandes der Kanban-Steuerung. Der Auswahl und Schulung der Mitarbeiter kam daher im Rahmen der Umsetzungsphase eine bedeutende Rolle zu.
Nicht alles über einen Kamm scheren
Bei Montblanc stellen die Charakteristika des Artikelspektrums ganz unterschiedliche Anforderungen an die Dimensionierung der Kanban-Regelkreise. Es gibt Fertigungsbereiche die prozessbedingt mit hohen Losgrößen arbeiten und andere Bereiche die durch minimale bis gar keine Rüstzeiten gekennzeichnet sind. Diesen unterschiedlichen Bereichen konnte man nur durch eine entsprechend differenzierte Kanban-Dimensionierung gerecht werden. Die eigentliche Dimensionierung der einzelnen Kanban-Regelkreise und damit die Festlegung der Anzahl der umlaufenden Kanbankarten wurde deshalb auf ein breiteres, mathematisch-analytisches Fundament gestellt. Häufig wird bei der Dimensionierung von Kanban-Regelkreisen nur die Wiederbeschaffungszeit pro Kanban, der durchschnittliche Verbrauch des Artikels (vergangenheitsbezogen), die Menge je Kanban-Behälter sowie ein sogenannter Sicherheitsfaktor berücksichtigt. Bei dieser Vorgehensweise hängt die Anzahl der umlaufenden Kanban-Karten und damit die Bestandshöhe im wesentlichen von einem Faktor ab, der nicht mathematisch-analytisch, sondern auf Basis eines “Bauchgefühls” festgelegt wird. Wichtige Bestimmungsgrößen wie
- Losgröße des Lieferanten (Sammelkanban)
- Losgröße / Verbrauch des Kunden
- Verbrauchsverhalten des Artikels (XYZ-Verhalten) und damit der richtige Sicherheitsbestand
- Ausschussfaktoren sowie
- die zukünftigen Verbrauche
werden dabei meist gar nicht erst berücksichtigt. Eine Optimierung der Bestände, Durchlaufzeiten und des Lieferservice kann somit jedoch nicht erreicht werden. Dies ist der zweite wesentliche Grund dafür, dass sich viele Unternehmen mit der Einführung von Kanban schwer tun und nicht die gewünschten Erfolge erzielen.
Eine der großen Schwachstellen bei der Dimensionierung eines Kanban-Regelkreises ist die Kalkulation mit Verbräuchen vergangener Perioden. Bei der Dimensionierung für Montblanc wurde hingegen die “Zukunft” in Form der rollierenden Absatzplanung für die zugrundeliegenden Verbrauchswerte herangezogen. Damit wurde Kanban bei Montblanc zu einem agierenden und nicht zu einem reagierenden Steuerungssystem.
Ein weiterer Schwachpunkt bestehender Kanban-Systeme ist häufig die fehlende regelmäßige Neudimensionierung des Systems. Eine Neudimensionierung muss jedoch in regelmäßigen Abständen bzw. nach Bedarf, sei es aufgrund veränderter Absatzprognosen bzw. veränderter Produktionsparameter, schnell und unkompliziert erfolgen. Bei Montblanc trägt hierfür die Disposition die Verantwortung. Sie wird die Neudimensionierung jedes einzelnen Artikels nach Bedarf bzw. in regelmäßigen Abständen durchführen. Das Ergebnis der Neudimensionierung ist eine veränderte Anzahl umlaufender Kanban-Karten. Bei einer Erhöhung der Kartenzahl müssen die zusätzlichen Karten in das System eingeschleust bzw. bei einer Reduzierung der Kanban-Karten diesem entzogen werden.
Mit der Dimensionierung der Regelkreise wurde gleichzeitig die Kalkulation der gelben und roten Bereiche der Kanban-Tafeln sowie eine Simulation der Kapazitätssituation der einzelnen Produktionsbereiche durchgeführt. Die Simulation kalkuliert die maximale und die minimale Anzahl notwendiger Rüstvorgänge pro Zeiteinheit und gleicht diese mit der bestehenden Kapazitätssituation ab. Zusätzlich wurde die benötigte Lagerfläche für die Kanban-Artikel dimensioniert, indem auch hier im Zeitverlauf die minimal, durchschnittlich und maximal benötigte Lagerfläche je Artikel und Kanban-Lager errechnet wurde. Diese Daten bildeten schließlich die Grundlage für die Beschaffung ausreichend großer Kanban-Tafeln und Regalsysteme.
PPS-Systeme und Kanban
Da Kanban ein selbststeuerndes System ist, benötigt es vom Grundsatz her kein zusätzliches PPS-System. Deshalb darf man bei der Implementierung von Kanban nicht darauf hinarbeiten, bestehende PPS-Systeme zwanghaft in das Kanban-System zu integrieren. Es ist vielmehr erforderlich, dass das PPS-System eine logische Schnittstelle zum Kanban-System hat. Das Kanban-System wurde bei Montblanc deshalb so konzipiert, dass die Produktion grundsätzlich auch ohne das im Einsatz befindliche SAP-System laufen kann. Dennoch benötigt man für die Auftragsabrechnung, die Beschaffung und die planerische Bestandsführung ein Abbild der Produktionsabläufe in einem PPS- bzw. ERP-System.
Warum sollte man nicht direkt auf die Kanban-Funktionalität vieler ERP-Systeme zurückgreifen? Ein wesentliches Merkmal eines Kanban-Systems stellt die Visualisierung aller Abläufe für alle Mitarbeiter dar. Dies wird durch die Abbildung einer Kanban-Tafel rein im ERP-System nicht ermöglicht. Bei Montblanc beispielsweise läuft zukünftig SAP-Kanban parallel zum manuellen Kanban-System, hiervon merken die normalen Anwender jedoch nichts. Sie setzen durch Scannen der Barcodes auf den Kanban-Karten lediglich verschiedene Stati im System. Dadurch wird die Materialbilanz im SAP-System mit den physischen Bestandsveränderungen synchronisiert. Gegen eine reine Kanban-Steuerung über das SAP-System spricht auch, dass das SAP-System gegenwärtig noch große Schwächen in der Kanban-Dimensionierung aufweist und über keine Lösung für die Abwicklung von Sammel-Kanbans verfügt.
Zusammenfassung
Der Erfolg von Kanban liegt in der Selbststeuerung der Produktionsbereiche im Rahmen der definierten Kanban-Regeln sowie der ausschließlichen Orientierung an den Bedarfen der Kunden begründet. Die aufgebauten selbststeuernden Regelkreise reduzieren dabei die Komplexität in der gesamten Logistikplanung. Hierdurch wird der permanente Eingriff der zentralen Steuerung in die Prozesse überflüssig. Es bleibt jedoch eine permanente Aufgabe aller am System beteiligten Mitarbeiter, durch weitere Verbesserungen der Rahmenparameter wie Losgröße, Rüst- und Produktionszeiten, Ausschussquoten, etc. die Wertschöpfungsketten hinsichtlich Durchlaufzeiten, Lieferservice und Bestände weiter zu optimieren.
1 Burkard J. Kiesel ist Direktor Technik bei der Montblanc-Simplo GmbH
2 Peter Kluge ist Leiter Fertigungstechnologie und Projektleiter für das Kanban-Projekt