Marktsynchrone Produktion trotz hoher Rüstzeiten

Konrad Ernst (SCHOTT Rohrglas GmbH, Mitterteich)
Bernd Reineke (Abels & Kemmner GmbH, Herzogenrath

Es ist möglich, Bestände an Fertigprodukten gering zu halten und dabei gleichzeitig einen hohen Lieferbereitschaftsgrad von über 95% zu erzielen, ohne den Produktionsablauf wesentlich zu verändern. Dass dies auch in der Glasproduktion gilt, wo doch Schmelzwannen nicht “mal eben” an- oder abgeschaltet werden können und auch die nachgelagerten Produktionsschritte sich nicht kurzfristig “on demand” umrüsten lassen, das konnte ein gemeinsames Projektteam von Abels & Kemmner sowie der SCHOTT-Rohrglas GmbH unter Beweis stellen.

In Logistik und Produktion hat jede Branche ihre Speziali­täten. Als Prozessfertiger hat die SCHOTT-Rohrglas GmbH, einer der weltweit führenden Hersteller von Spezial­glasröhren, besondere Anforderungen an das Bestandsma­nagement. Der kontinuierliche Produktionsprozess ist ge­kennzeichnet durch hohe Rüstaufwendungen, hohe Energie­kosten sowie höchste Ansprüche an die Prozess- und Pro­duktqualität. Der Flexibilität hinsichtlich Losgrößen und Kapazitätsbelegung sind enge Grenzen gesetzt. Auch die Fertigungsreihenfolge der in 16 Produktgruppen aufgeteil­ten Artikel unterliegt technologisch bedingt strengen Re­geln, die wenig Spielraum für die Planung bieten. Schwan­kungen im Absatz wirken sich direkt in der Lieferbereit­schaft und in den Beständen aus: Bei steigendem Absatz sind schnell die Kapazitätsgrenzen erreicht, was sofort zur Beeinträchtigung der Lieferbereitschaft bei nur gering be­vorrateten Artikeln führen kann. Sinkender Absatz verur­sacht aufgrund des kontinuierlichen Produktionsprozesses einen Anstieg der Bestände. Die Schmelzleistung der Wan­nen kann nur mit erheblichem Zeit- und Kostenaufwand reduziert werden. Zum anderen fehlen möglicherweise diese Produktionskapazitäten, wenn der Absatz wieder anzieht.

SCHOTT-Rohrglas beauftragte daher die Abels & Kemm­ner GmbH mit dem Aufbau eines systematischen Bestands­und Lieferbereitschaftsmanagements mit dem Ziel, unter Berücksichtigung der technologisch vorgegebenen Randbe­dingungen die Soll-Lieferbereitschaftsgrade zu erreichen und die Bestände auf ein marktsynchrones Maß zu redu­zieren.

Die in vielen Supply Chain-Projekten bewährte Ablaufsys­tematik von Abels & Kemmner sah eine Engpassanalyse und eine Artikelstrukturierung nach ABC- und XYZ-Kenn­zeichen vor, sowie eine auf den Anwendungsfall zugeschnit­tene Konzeptphase mit Simulation der in Frage kommenden Planungs- und Dispositionsverfahren und der anschließen­den Umsetzung in die betrieblichen Geschäftsprozesse.

Das Projektteam setzte sich aus Vertretern der Logistik. Ar­beitsvorbereitung, Vertrieb und Versand von SCHOTT Rohrglas sowie aus industrie- und projekterfahrenen Bera­tern von Abels & Kemmner zusammen. Im ersten Schritt wurden die Geschäftsprozesse Auftragsabwicklung, Dispo­sition, Fertigungsplanung und Versand analysiert und dabei Verbesserungspotenziale ermittelt und dokumentiert. Im Rahmen eines Workshops erörterten die Projektteammit­glieder diese Potenziale und entwickelten die relevanten Handlungsfelder. Als Ergebnis der Engpassanalyse lagen neben den konkreten Verbesserungspotenzialen somit auch erste Zielvorstellungen für die zukünftigen Prozesse und das im Einsatz befindliche SAP R/3-System vor.

Abbildung 1. SCHOTT Spezialglasröhren aus FIOLAX®-klar und FIOLAX®-braun werden weltweit für verschiedene phar­mazeutische Primärpackmittel eingesetzt. (Quelle: SCHOTT-Rohrglas)
Abbildung 1. SCHOTT Spezialglasröhren aus FIOLAX®-klar und FIOLAX®-braun werden weltweit für verschiedene phar­mazeutische Primärpackmittel eingesetzt. (Quelle: SCHOTT-Rohrglas)

Handlungsfelder

Aus der Engpassanalyse ergaben sich vor allem folgende Handlungsfelder, um die Wertschöpfungsprozesse wesent­lich enger an die Marktnachfrage zu koppeln und damit kapitalbindende und mitunter – wegen nicht bestimmbarer Nachfrage – risikoreiche Fertigbestände abzubauen:

  • Optimieren der Dispositionsunterstützung in SAP,
  • Aufbau einer rollierenden Absatzplanung,
  • Einbindung der neuen Produktions- und Kapazitätspla­nung in den neuen Planungsablauf,
  • Gestaltung und Optimierung der Auftragsabwicklung.

Die zur Geschäftsprozessanalyse parallel durchgeführte Ar­tikelstrukturierung nach ABC- und XYZ-Kriterien brachte folgende Ergebnisse:

  • Die umsatzstarken Artikel (AB) mit gleichmäßigem Ver­brauch (XY) machen nur einen geringen Anteil (3%) al­ler Artikel aus.
  • Der Anteil dieser Artikel am Gesamtbestand beträgt nur 28%, während über 70% des Bestands jene Artikel aus­machen, die nur unregelmäßig abfließen und geringen Umsatzanteil haben.
  • Mehr als die Hälfte der Artikel hat sich im Betrachtungs­zeitraum überhaupt nicht bewegt (NN), hat aber einen erheblichen Anteil am Bestandsvolumen.

Die Ergebnisse der ABC/XYZ-Analyse zeigten, dass die ein­gesetzten Verfahren zur Planung und Disposition den An­forderungen aus Technologie und Technik auf der einen Seite und den Markterfordernissen auf der anderen Seite nicht gerecht wurden. Daher standen die Planungsverfahren in der zweiten Phase des Projektes, der Konzeptphase, im Vordergrund.

Bevorratungsstrategien

Zunächst wurden anhand der ABC/XYZ-Kriterien die Be­vorratungsstrategien festgelegt. Da nur die AB/XY-Artikel einen regelmäßigen Verbrauch aufweisen und aufgrund des hohen Umsatzanteils auch schnell vom Lager wieder abflie­ßen, wurde entschieden, diese Artikel zukünftig zu bevorra­ten. Auch AB/Z- und C/XY-Artikel die von mehreren Kun­den geordert werden und somit von strategischer Bedeutung sind, sollen zukünftig auf Vorrat, alle anderen Artikel nur noch auftragsbezogen produziert werden (s. Abb. 2).

Abbildung 2. Lagerhaltigkeit im ABC/XYZ-Portfolio.
Abbildung 2. Lagerhaltigkeit im ABC/XYZ-Portfolio.

Arbeitsvorbereitung und Fertigungssteuerung 

Alle Artikel, die nicht lagerhaltig sind, dürfen nur noch in den geforderten Mengen produziert werden, d.h. es darf kein Bestand aufgebaut werden, auch wenn Überkapazitä­ten vorhanden sind. Diese sind ausschließlich für die lager­haltigen Artikel zu nutzen. Sollten bei lagerhaltigen Artikeln die Bestandsreichweiten die doppelte Wiederbeschaffungs­zeit erreichen, so ist zu prüfen, inwiefern wartungsbedingte Stillstände verlängert werden können, um einen übermäßi­gen Bestandsaufbau in jedem Fall zu vermeiden. Insbeson­dere die Arbeitsvorbereitung und Fertigungssteuerung sind jetzt für die Umsetzung und Einhaltung dieser Regeln ver­antwortlich.

Abbildung 3. Reihenfolgeplanung der Werkzeugeinsätze
Abbildung 3. Reihenfolgeplanung der Werkzeugeinsätze

Simulation der Planungs- und Dispositionsverfahren mit DISKOVER 

Zur Steuerung und Festlegung der durchschnittlichen Be­standshöhen und Sicherheitsbestände von lagerhaltigen Ar­tikeln wurde das Bestandsmanagement- und Simulations­tool DISKOVER von Abels & Kemmner herangezogen. Zu­nächst wurde nur eine Glassorte, nämlich das für technische Gläser verwendete DURAN® betrachtet, um erste Erfah­rungen mit wenigen Artikeln zu sammeln und die Vorge­hensweise für die restlichen Glassorten zu verifizieren.

DURAN®-Erzeugnisse werden periodisch gefertigt, da die Werkzeuge am Ausgang der Schmelzwanne in einer be­stimmten Reihenfolge gewechselt werden. Diese Werkzeuge können immer nur bestimmte Durchmesser- und Wandstär­kenbereiche herstellen, so dass ein Artikel immer nur dann produziert werden kann, wenn das Werkzeug wieder im Ein­satz ist. Zur Überbrückung dieses Zeitintervalls sind lager­haltige Artikel entsprechend hoch zu bevorraten, dieser Zeitraum wird Eindeckzeit genannt (s. Abb. 3) und ist eine der wesentlichen dispositiven Eingangsgrößen für die Simu­lation.

Bei der Simulation mit DISKOVER werden verschiedene Planungs- und Dispositionsverfahren je Artikel auf Basis der Vergangenheitsdaten durchgerechnet, um das jeweils beste Verfahren mit den optimalen Parametern zu erhalten. Weitere Eingangsgrößen für die Simulation sind die ge­wünschten Soll-Lieferbereitschaftsgrade, Losgrößen und Wiederbeschaffungszeiten. Anhand der simulierten durch­schnittlichen Bestände und der simulierten Lieferbereit­schaftsgrade lassen sich die erzielbaren Einsparpotenziale ermitteln.

Wie bei allen Simulationsprojekten wurden verschiedene Sze­narien definiert, anhand derer sich die Einflüsse unterschied­licher Eingangsgrößen und Verfahren ermitteln lassen. Da SCHOTT-Rohrglas SAP einsetzt, wurde eigens ein Szenario durchgerechnet, bei dem nur Planungs- und Dispositionsver­fahren verwendet wurden, die auch SAP bereitstellt, um die Optimierungsmöglichkeiten sowohl mit als auch ohne wei­tere Softwareinvestitionen ermitteln zu können.

Die Ergebnisse der Simulationsläufe mit und ohne zusätzli­che DISKOVER-Features ergaben, dass sich die Bestände mit Einsatz neuer Planungs- und Dispositionsverfahren um fast die Hälfte reduzieren lassen (s. Abb. 4). In allen Szena­rien konnte der Lieferbereitschaftsgrad deutlich auf einen Durchschnittswert von ca. 95% verbessert werden. Für SCHOTT-Rohrglas war das Simulationsergebnis der SAP-­Verfahren besonders erfreulich: Auch hier kann der Bestand um gut 50% reduziert werden, wobei ein durchschnittlicher simulierter Lieferbereitschaftsgrad von ca. 93% erreicht wurde. Eine zusätzliche Investition in DISKOVER für die tägliche Disposition ist also nur erforderlich, wenn der Lie­ferbereitschaftsgrad unter gegebenen Parametern weiter ge­steigert werden soll.

Abbildung 4. Bestandssenkungs-Potenzial durch optimal ein­gestellte Planungs- und Dispositionsverfahren in Abhängigkeit vom angestrebten Lieferbereitschaftsgrad (LBG) bei SCHOTT-Rohrglas.
Abbildung 4. Bestandssenkungs-Potenzial durch optimal ein­gestellte Planungs- und Dispositionsverfahren in Abhängigkeit vom angestrebten Lieferbereitschaftsgrad (LBG) bei SCHOTT-Rohrglas.

Fazit 

Auch in der Prozessindustrie mit stark eingeschränkter Fle­xibilität, die geprägt ist von technologischen Randbedin­gungen, lassen sich durch intelligente Planungs- und Dispo­sitionsverfahren sowie bedarfsorientierte Bevorratungsstra­tegien erhebliche Einsparungen realisieren. Projektmitglie­der und Geschäftsführung der SCHOTT-Rohrglas waren von der Höhe der Bestandssenkungs-Potenziale überrascht. Zurzeit wird an der schnellen Umsetzung der Ergebnisse ge­arbeitet.

 Adresse der Autoren:
Konrad Ernst
SCHOTT-Rohrglas GmbH
Erich-Schott-Straße 14
D-95666 Mitterteich
E-Mail: konrad.ernst@schott.com
Dr. Bernd Reineke
Abels & Kemmner
Gesellschaft für Unternehmensberatung mbH
Kaiserstraße 100
D-52134 Herzogenrath/Aachen
E-Mail: breineke@ak-online.de
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Dr. Bernd Reineke