SCM – Die Würth-Gruppe, Handelskonzern für Befestigungs- und Montagematerial, reduziert am Standort Belgien drastisch die Bestände bei gleichbleibend hohem Servicegrad.
Was tun, wenn ein Unternehmen feststellt, dass der Lagerbestand, sprich das spezifische Bestandsniveau, in einzelnen Gesellschaften unabhängig vom Umsatz pro Artikel ist? Bei Würth gibt es beispielsweise Gesellschaften mit 1.500 Euro Umsatz pro Artikel und Gesellschaften mit 30.000 Euro Umsatz pro Artikel im Jahr. Der jeweilige Lagerumschlag, sprich der relative Bestandswert, war in der Regel identisch. Vor dieser Aufgabe stand die Würth-Gruppe, immerhin ein weltweit tätiger Handelskonzern mit 376 Gesellschaften in 84 Ländern und einem Eigenproduktionsanteil von vier Prozent. Entstanden aus einem Zweimannbetrieb ist die Würth-Gruppe heute mit ihrem Sortiment im Kerngeschäft von über 100.000 Produkten, darunter Schrauben, Schraubenzubehör, Dübel, chemisch-technische Produkte, Möbel- und Baubeschläge, Werkzeuge, Bevorratungs- und Entnahmesysteme, Anbieter für Lösungen von Befestigungsproblemen aller Art.
Seit Jahren wächst das im schwäbischen Künzelsau beheimatete Unternehmen im Schnitt jährlich mit zweistelligen Raten und wird 2007 erneut Umsatzrekorde erzielen. Dieser langanhaltende Erfolg resultiert aus einer konsequenten Umsetzung einer von Beginn an ganzheitlich ausgerichteten Logistiklösung. „Wir haben nicht bewusst Meilensteine für die Zukunft gesetzt, sondern die Entwicklung der Logistik für unsere Marktbedürfnisse und die starke Expansion permanent angepasst”, erklärt Armin Breitner, verantwortlich für die Konzernlogistik.
So arbeiten die verschiedenen Gesellschaften kontinuierlich in einzelnen Projekten daran, die logistischen Prozesse zu verbessern, sei es der Einsatz effizienter und einfacher Lagertechniken im Künzelsauer Zentrallager oder der Ausbau des europäischen Distributionsnetzwerks in Richtung Osteuropa (s. LH 11104). Durch den Zukauf neuer Unternehmen und die Entwicklung innovativer Produkte für neue Märkte ist die Anzahl der Artikel und Landesgesellschaften in den vergangenen Jahren enorm gewachsen. Der Konzern arbeitet deshalb permanent daran, seine Bestände zu optimieren. Zugleich ist das Unternehmen bestrebt, die Kunden mit einem optimalen Servicegrad zu bedienen.
Potenzial durch Bestandsverbesserung
Vor etwa drei Jahren hat Würth das Projekt über Logistikstrategien zur Erschließung des osteuropäischen Marktes begonnen. Im Zuge der Projektbearbeitung stellte sich Anfang 2005 die Frage, ob eine dezentrale Strategie mit der Bewirtschaftung eines Lagers in jedem Land oder eine zentrale Struktur mit einem regionalen osteuropäischen Zentrallager verfolgt werden soll. Die wesentlichen Vorteile für eine Zentrallagerlösung lagen dabei in der Bestandsoptimierung.
In diesem Zusammenhang untersuchte das Projektteam sämtliche Bestandssituationen aller Landesgesellschaften in Abhängigkeit vom Umsatz pro Artikel. „Aufgrund des enormen Umsatzzuwachses der gesamten Würth-Gruppe in den vergangenen Jahren schlummerten zwangsläufig erhebliche Potenziale in der Bestandsoptimierung. Diese hätten eigentlich in einen höheren Lagerumschlag und damit in einen geringeren Lagerwert münden müssen” erläutert Breitner.
Zeitgleich zu den Überlegungen, wie die Potenziale über Bestandsverbesserungen gehoben werden können, erhielt Breitner einen Werbebrief der Abels & Kemmner Gesellschaft für Unternehmensberatung mbH, Herzogenrath/Aachen, zum Thema Optimierung der Disposition. Das Herzogenrather Team überzeugte mit seinem Konzept, sodass dann eine Landesgesellschaft für den Piloten gewonnen werden musste. Breitner: „Wir sind als Handelskonzern sehr dezentral organisiert und bringen von der Zentrale lediglich Lösungsansätze für die Gesellschaften. Jeder Geschäftsführer verantwortet selbstständig seine Gesellschaft.” Letztendlich konnte der Konzernlogistiker die belgischen Kollegen für das Bestandsprojekt gewinnen.
Ziel war es, die Bestände nachhaltig zu reduzieren. Dabei sollte sich der bisherige Lieferservicegrad in Höhe von 98,5 Prozent nicht verschlechtern. Bei steigendem Durchsatz führt eine Bestandssenkung in der Regel zwangsläufig auch zu einer steigenden Anzahl an Bestell- und Wareneingangspositionen. So lautete ein weiteres Ziel, mit der Bestandsoptimierung keinen negativen Einfluss auf die Abläufe in der Disposition und im Wareneingang zu nehmen. Denn die belgischen Kollegen arbeiteten in diesen beiden Bereichen mit minimalem Personalaufwand bereits recht effektiv, sodass deren Produktivitäten unberührt bleiben sollten. Ebenso sollte die einhergehende höhere Bestell- und Lieferfrequenz nicht auf Kosten anderer Bereiche und Prozesse teuer erkauft werden.
Analyse der Artikel und Verbrauchsverläufe
Das Projekt startete im März 2005 mit den ersten Potenzialanalysen, um auszuloten, ob es sich lohnt, richtig ins Projekt einzusteigen. Das Ergebnis war eindeutig, sodass die Belgier in einem nächsten Schritt ihre Sortimente tiefergehend analysierten. Belgien hat rund 27.500 Artikel im System, davon fielen etwa 10.500 Artikel als Nicht-Handelsware für die Untersuchung weg. Von den restlichen knapp 17.000 Artikeln sind 3.500 Artikel nicht vorrätig und werden nach Bedarf auftragsbezogen beschafft. So blieben letztendlich rund 13.500 Artikelstammdaten für die Simulation und Bestandsoptimierung übrig.
Zur Ermittlung der geeigneten Dispositionsparameter hat Würth Belgien auf das Simulationstool der Beratungsgesellschaft Abels & Kemmner zurückgegriffen. Dieses Rechentool ermittelte für die verschiedenen Artikel die Verbrauchsverläufe und fasste sie in entsprechende Artikelcluster zusammen. „Wir haben mithilfe des Simulationsverfahrens errechnet, welches optimale bzw. bestandsminimale Verfahren es für einen vorgegebenen Lieferbereitschaftsgrad gibt”, erläutert Logistikleiter Michel Mondelaers. „Dabei konnten wir nicht alle Artikel über einen Kamm scheren, sondern haben die geeignete Kombination an Verfahren und Parametern zuerst für spezifische Artikelklassen und am Ende dann für jeden einzelnen Artikel ausgewählt.”
Für die belgische Landesgesellschaft hieß dies, für 13.500 dispositionsrelevante Artikel passende Kombinationen durchzurechnen. Pro Artikel ergaben sich zwischen 80 bis 100 unterschiedliche Lösungsvarianten. So kann die Ermittlung eines durchschnittlichen Monatsbedarfs nach verschiedenen statistischen Verfahren, wie arithmetisches Mittel, gewichtetes Mittel, medianes Verfahren, exponentielle Glättung 1. Ordnung oder 2. Ordnung, erfolgen. Doch welches ist das richtige Verfahren? Diese Frage stellte sich beispielsweise auch für den Sicherheitsbestand, der sich ebenfalls nach unterschiedlichen Methoden und mit verschiedenartigen Parametereinstellungen berechnen lässt.
„Wir können heutzutage von einem Disponenten nicht mehr verlangen, dass er diese Parameter für alle Artikel errechnet Das ist generell ein Grundproblem: Wir führen heute SAP-Systeme ein und stellen nach bestem Wissen und Gewissen die entsprechenden Parameter ein – aber letztendlich doch relativ pauschal über alle Artikel, vielleicht noch etwas nach ABCStruktur, aber auf keinen Fall optimal”, erklärt Breitner die Situation, wie sie in vielen Unternehmen anzutreffen ist. Erst durch die individuelle Optimierung eines jeden Artikels wird das wirkliche Potenzial sichtbar. War zu Projektbeginn die Würth-Crew noch skeptisch, so überzeugend fielen dann die Simulationsergebnisse aus (s. auch „Ressource Bestand”, S. 30).
Bereits ein halbes Jahr später, im September 2005, stellte die Landesgesellschaft die ersten 100 Testartikel auf die neu ermittelten Dispositionsmethoden um. Das Simulationstool von Abels & Kemmner wurde weiterhin im Hintergrund als Rechenmodell genutzt. Denn das IT-System, das im belgischen Zentrallager existiert, konnte in der Disposition zu wenig. So hat das Team um Projektleiter Mondelaers das Simulationstool als Dispositionstool über Schnittstellen an das eigentliche IT-System angebunden. Das neue Tool rechnet pro Artikel den Bestellvorschlag aus und übermittelt diesen an das bisherige ERPTransaktionssystem, welches dann weiterhin die Bestellung auslöst.
Neues Dispositionstool eingesetzt
Die großen Einsparpotenziale haben die belgischen Kollegen sehr schnell am Anfangabgeschöpft. Später verlangsamte sich das Tempo. Das Team war gezwungen, aufgrund der Verschlechterung des Servicegrads sogar gegenzusteuern (s. Grafik Bestandsentwicklung). Bei der erneuten Analyse erkannte das Unternehmen, dass Aktionen teilweise nicht richtig geplant wurden, Verkäufer die Großmengenregelung umgehen oder bestimmte Stammdaten nicht stimmen.
Mittlerweile hat Belgien alle Artikel umgestellt und die entsprechenden Dispositionsparameterhinterlegt Weitere Verbesserungen sind in Planung. „Wir arbeiten im Moment daran, die Prozesse in jeder Abteilung stabil zu halten und unsere Lieferanten besser zu überwachen. So wollen wir auch schneller eingreifen können, wenn Lieferterminverzögerungen eintreten, die sich unmittelbar auf den Servicegrad auswirken”, erklärt Breitner.
Seit Mitte 2006 ist das Projekt in Belgien offiziell abgeschlossen. Mit sichtbaren Erfolgen, wie das Teamzufrieden konstatiert: „Wir haben den Bestand um 28 Prozent des Anfangsbestands, also von 4,5 Mio. Euro auf rund 3,2 Mio. Euro reduziert. Dabei konnten wir nicht nur den Servicegrad in Höhe von 98,5 Prozent konstant beibehalten, sondern auch die Disposition durch bessere Prognosedaten weiter automatisieren-, fasst Mondelaers die Ergebnisse zusammen.
Bessere Planung
Die Prognosedaten werden an die internen Hersteller weitergereicht, uni auch dort eine bessere Planung von Produktion und Reservelager zu ermöglichen. Neben der Optimierung und Anpassung der Bestellmengen an die Lagereinheiten haben die Belgier außerdem den Anteil an direkt einlagerfähigen Lagereinheiten erhöht. Durch den schnelleren und effizienteren Wareneingang aufgrund lademittelbezogener Bestell- und Anliefermengen ist die Ware heute wesentlich schneller verfügbar.
Den Einsparpotenzialen in Höhe von 1,3 Mio. Euro allein für die Bestandsreduzierung und der damit verbundenen höheren Liquidität der Landesgesellschaft stehen relativ geringe externe Kosten gegenüber. So beliefen sich die Lizenzgebühren für das neue Dispositionssystem sowie das Beratungshonorar auf 100.000 Euro. Eine Investition, die sich für Würth Belgien mehr als gerechnet hat.
Die Würth-Gruppe
Die Würth-Gruppe mit Sitz im baden-württembergischen Künzelsau ist mit 375 Gesellschaften in 84 Ländern der Welt aktiv und hat sich von der einfachen Schraubengroßhandlung zu einem der führenden Anbieter auf dem Markt der Befestigungs- und Montagetechnik entwickelt.
2006 beschäftigte das Unternehmen weltweit über 54.900 Mitarbeiter/innen und schloss das Geschäftsjahr 2006 mit einem konsolidierten Jahresumsatz von 7,75 Mrd. Euro ab, was einer Steigerung gegenüber dem Vorjahr von 12,1 Prozent entspricht. Das Betriebsergebnis vor Steuern in Höhe von 515 Mio. Euro übertraf die bisherige Bestmarke aus dem Vorjahr (2005: 455 Mio. Euro) um 13,2 Prozent.
Die erfolgreiche Geschäftsentwicklung setzt sich auch 2007 mit neuen Umsatzrekorden bereits im ersten Quartal fort. Für das Jahresende 2007 visiert die Würth-Gruppe ein Umsatzwachstum um rund 10 Prozent auf etwa 8,5 Mrd. Euro an.
Supply Chain Manager 2007
Anlässlich der Management Circle-Veranstaltung „Supply Chain Manager Forum 2007″ fand Ende April in Frankfurt/Main die Preisverleihung „Der Supply Chain Manager 2007″ statt. In Zusammenarbeit mit der Universität zu Köln und weiteren Jurymitgliedern (s. Bild) prämierte der Veranstalter aus dem Kreis der Bewerbungen das beste SCM-Projekt nach dem Motto „Strukturen verschlanken, Transparenz schaffen, Flexibilität leben!”. Die Wahl fiel dabei auf die Würth GmbH & Co. KG und ihre Erfolge für die strukturelle Optimierung des Bestands und der Disposition in der belgischen Landesgesellschaft.