Marktsynchrone Produktion in der Uhrenindustrie

Von Gervaise Voisard, Olaf Rellecke und Götz-Andreas Kemmner

Synchron mit den Marktbedarfen zu produzieren und zu beschaffen ist heute in Produktionsunternehmen übliche Praxis. Wie aber baut man marktsynchrone Prozessketten auf, wenn beschaffungsseitig sehr lange Lieferzeiten bestehen? In einem Projekt beim Schweizer Uhrenproduzenten Montblanc-Montre S.A. wurden im Durchschnitt 19 Prozent der Bestände reduziert – trotz langer Lieferzeiten.

Die Montblanc-Montre S.A. aus dem Uhrenmekka Le Locle im Schweizer Jura ist ein Tochterunternehmen der Montblanc-Gruppe in Ham­burg und gehört zum Schwei­zer Luxusgüterkonzern Riche­mont in Genf. Montblanc­Montre fertigt hochwertige Uhren der Marke Montblanc, die in den Montblanc-Bouti­quen und über ausgewählte Händler weltweit angeboten werden. Gegründet 1997 hat das Unternehmen in den letz­ten Jahren ein rasantes Wachstum durchlaufen und produziert inzwischen über 100 000 klassische mechani­sche Uhren im Jahr (Bild 1).

Bild 1: Produktbeispiel aus dem Hause Montblanc-Montre S.A
Bild 1: Produktbeispiel aus dem Hause Montblanc-Montre S.A

Die Uhrenindustrie – eine besondere Branche

Die Uhrenindustrie weist einen hohen Anteil an Zukaufteilen auf, die von spezialisierten mittelständischen Zulieferun­ternehmen produziert werden. Nicht nur Uhrwerk-Kompo­nenten, auch Ziffernblätter, Gehäuse oder Zeiger sind hochkomplexe feinmechani­sche Teile, die in vielen auf­wändigen Produktionsschrit­ten, häufig aus speziellen Me­talllegierungen und ausgefal­lenen Sondermaterialien her­gestellt werden. Lieferzeiten von drei Monaten gelten hier­bei bereits als schnell, und es ist nicht ungewöhnlich, dass von der Bestellung beim Liefe­ranten bis zur Auslieferung der Teile neun bis über zwölf Monate vergehen.

Hohe Qualitätsanforderungen an die beschafften Kompo­nenten und sorgfältige Quali­tätsprüfungen führen weiter­hin dazu, dass ein deutlicher, aber schwankender Anteil der Liefermengen vom Qualitäts­management zurückgewiesen werden und damit nicht zu dringend benötigten Uhren verbaut werden können.

Weiterhin charakteristisch für die Uhrenbranche ist der hohe jährliche Anteil an Produkt­neuheiten, der typischerweise 25 bis 35 Prozent einer Uhrenkollektion ausmacht.

All dies sind Randbedingun­gen, die zu hohen Fertig­warenbeständen führen und trotzdem die Lieferfähigkeit von Fertiguhren negativ be­einflussen. Eine Ausgangs­situation, in der man übli­cherweise nicht über eine marktsynchrone Wertschöp­fungskette diskutiert.

Voraussetzung: Bedarfsprognose

Wenn die Teile, die das Unter­nehmen heute verbauen muss, bereits vor einem halben Jahr bestellt werden mussten, geht ohne eine sorgfältige Absatz­prognose nichts, egal ob man marktsynchron produzieren will oder nicht.

Als Tochterunternehmen von Montblanc in Hamburg setzt Montblanc-Montre ebenfalls SAP ein und ist in den welt­weiten Absatzplanungspro­zess der Montblanc-Gruppe eingebunden, der bereits vor einigen Jahren gemeinsam mit dem Beratungshaus Abels & Kemmner konzipiert und umgesetzt wurde.

Damit lag eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung vor, um überhaupt über eine marktsynchrone Produktion nachzudenken. Doch eine noch so gute Ab­satzplanung kann es nicht vollends vermeiden, dass der tatsächliche Marktbedarf von der Prognose abweicht, Liefe­rungen verzögert eintreffen oder Teillieferungen der ge­forderten Qualität nicht ge­recht werden. Letztlich sind regelmäßig nicht alle Kompo­nenten verfügbar, die gerade für einen Fertigungsbedarf benötigt werden, oder sie wurden in die falschen Fertig­uhren verbaut, die gegenwär­tig nicht nachgefragt werden und somit den Lagerbestand erhöhen und die Lieferfähig­keit verschlechtern.

Grundprinzip: Zweistufige Regelkreise

Um diese Situation grundle­gend und nachhaltig zu ver­bessern, wurde von Abels & Kemmner gemeinsam mit ei­nem Projektteam von Mont­blanc-Montre und Mont­blanc-Simplo in Hamburg ein sogenanntes „Postponed Ma­nufacturing Concept” (post­poned = aufgeschoben) mit zweistufigem Regelkreis ent­wickelt, dessen betriebsinterne Stufen inzwischen umgesetzt sind. Die Lieferanteneinbin­dung folgt in weiteren Stufen.

Alleine durch die internen Umstrukturierungen konnten die Bestände trotz gegebener Problematik um durchschnitt­lich 19 Prozent gesenkt wer­den.

Der gesamte Herstellungspro­zess wurde in zwei Nachbe­vorratungsregelkreise aufge­teilt (Bild 2): Das Fertigwaren­lager wird nun über eine Just­in-time-Endmontage mit den Fertiguhren beliefert. Diese Endmontage greift auf vor­montierte Uhren zurück, an denen lediglich noch die Arm­bänder angebracht werden.

Da sich eine große Zahl an Fertiguhren nur durch die un­terschiedlichen Leder-, Textil­und Metallarmbänder unter­scheidet, konnte auf diese Weise die Variantenbildung wertstromabwärts in Richtung Kundendelta gelegt werden, wodurch deutlich geringere Bestände an Fertiguhren im Fertigwarenlager bevorratet werden müssen.

Der Idealzustand wäre, die Montage sogar direkt an den Point-of-Sale zu verlagern. Eine Reihe von Qualitätsre­striktionen verbieten es ge­genwärtig jedoch noch, auf diesen Montageschritt zu ver­zichten.

Ausgehend von der Positio­nierung der Fertiguhren in ei­nen ABC/XYZ-Portfolio* wur­den Kriterien definiert, welche Uhren überhaupt auf dem Fer­tigwarenlager bereitgehalten und welche Uhren bei Bedarf kurzfristig über die JIT-End­montage nachproduziert wer­den.

Strategischer Hebel: Die zweistufige Nachbevorratung Durch die sowohl absatzprognostisch als auch ordergesteuerte Just-in-time-Endmontage der Armbänder konnte das Fertigwarenlager deutlich reduziert werden, da sich die hieraus resultierenden Varianten und Bestände erst bilden, wenn die Nachfrage gesichert ist. Im gesamten Unternehmen sanken die Bestandswerte um 19%.
Strategischer Hebel: Die zweistufige Nachbevorratung Durch die sowohl absatzprognostisch als auch ordergesteuerte Just-in-time-Endmontage der Armbänder konnte das Fertigwarenlager deutlich reduziert werden, da sich die hieraus resultierenden Varianten und Bestände erst bilden, wenn die Nachfrage gesichert ist. Im gesamten Unternehmen sanken die Bestandswerte um 19%.

Statt klassischem Kanban: Order Control Center

Von vornherein war klar, dass ein klassisches Kanban-Sys­tem zur Steuerung der beiden Nachbevorratungsregelkreise nicht in Frage kam. Ein klassi­sches Kanban-System setzt voraus, dass die Komponenten in den Supermärkten, aus de­nen sich ein Regelkreis be­dient – zumindest größtenteils – vorhanden sind. Vor der Durchführung eines anstehen­den Kanbans müsste geprüft werden, ob die benötigten Komponenten in dem Super­markt in ausreichender An­zahl vorhanden sind.

Fehlt eine Komponente kom­plett, kann der Auftrag nicht begonnen werden. Fehlt eine Teilmenge einer oder mehre­rer Komponenten, kann nur eine Teilmenge des Sammel­Kanbans erfüllt werden. So­fern die unterdeckten Kompo­nenten in mehrere anstehende Sammel-Kanbans eingehen, muss eine Entscheidung über die Priorität der Komponen­ten-Allokation getroffen wer­den. Ein klassisches Kanban­System ist mit einer solchen Situation komplett über­fordert.

Um dieses Problem elegant und rationell in den Griff zu bekommen, wurde eine ABAP-Programmierung (Ad­vanced Business Application Programming; Programmier­sprache für SAP) am vorhan­denen SAP-System vorge­nommen.

Das neue SAP-Modul „Order Control Center (OCC)” (Bild 3) hilft heute bei der Steuerung der Nachbevorratungsregel­kreise. Die Regelkreise selbst werden durch ein zweites SAP-ABAP, das „Replenish­ment Parameter Calculation (RPC)-Modul” monatlich nachdimensioniert.

Was in den beiden Nachbe­vorratungsregelkreisen zu produzieren ist, wird über Meldebestände in den Super­märkten gesteuert, die von den beiden Regelkreisen be­liefert werden.

Auf der zentralen Steue­rungsmaske des OCC sind alle anstehenden Fertigungsbe­darfe für Uhrenköpfe wie für Fertiguhren aufgeführt und nach verschiedenen festgeleg­ten Prioritätskriterien sortiert. Diese Auftragsreihenfolge kann jedoch vom Disponenten übersteuert werden.

Für jeden anstehenden Auf­trag weist das OCC aus, wel­che Menge produziert werden müsste und welche Menge produziert werden kann. Bei der Ermittlung der zu produ­zierenden Menge eines Teiles berücksichtigt das OCC nicht nur die Unterschreitung eines Meldebestandes, sondern be­rücksichtigt auch anstehende Kundenaufträge, die über die Nachbevorratungsmenge der Meldebestandssteuerung hin­ausgehen.

Bei neuen Produkten gibt das OCC genau die vom Marketing als Systemfüllung definierte Erstfertigungsmenge vor. Die tatsächliche Fertigungslos­größe, die gefertigt werden kann, hängt von der am ge­ringsten verfügbaren Kompo­nente ab. Das OCC weist die verfügbaren Komponenten­bestände in der Reihenfolge der Auftragsprioritäten den anstehenden Nachbevorra­tungsaufträgen zu.

Auf diese Weise wird sicher­gestellt, dass die „wichtigsten” Aufträge zuerst mit benötig­ten Komponenten versorgt werden. Auch diese Mengen­allokation kann vom Bediener übersteuert werden, der auf diese Weise weitere, dem Sys­tem nicht bekannte Informa­tionen in die Komponenten­zuordnung einfließen lassen kann. Die Konsequenzen einer veränderten Zuordnung von Komponentenmengen erhält der Bediener direkt im Dialog angezeigt.

Aus der zentralen Maske des OCC heraus kann der Dis­ponent direkt in die Umset­zung der Bedarfsanforderung (BANF) in einen Fertigungs­auftrag oder eine externe Be­stellung springen. Die beiden Alternativen sind deswegen notwendig, weil ein Teil der Uhren (ohne Armbänder) von einem externen Lohnfertiger produziert wird. Auf diese Weise wird die Fertigungska­pazität der starken Saisonali­tät angepasst, und es kann auf eine umfangreiche Vorpro­duktion während der schwa­chen Saisonzeiten verzichtet werden.

Erst mit dem durch den Be­diener angestoßenen automa­tischen Generieren einer BANF und deren folgender Umsetzung werden Kompo­nentenbestände definitiv den Fertigungsaufträgen zugeord­net. Das OCC nimmt keine Materialreservierungen in die Zukunft vor. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass das OCC bei jedem Start die ak­tuelle Bedarfssituation mit der aktuellen Angebotssitua­tion an Komponenten ver­gleicht.

Der zentrale Informationsbildschirm des neuen SAP-ABAPs "Order Control Center"
Der zentrale Informationsbildschirm des neuen SAP-ABAPs “Order Control Center”

Modul dimensioniert die Regelkreise monatlich

Die saisonal starken Schwan­kungen in der Marktnachfrage machen es erforderlich, die Meldebestände der Nachbe­vorratungsregelkreise monat­lich artikelspezifisch nachzu­dimensionieren. Diese Aufga­be erledigt ein zweiter, RPC­Modul (replenishment para­meter calculation) genannter ABAP. Das RPC-Modul greift die im Rahmen der Absatz­planung ermittelten Bedarfs­prognosen für die einzelnen Fertiguhren ab und berechnet hieraus vier Steuerungspara­meter für jede Fertiguhr: eine Soll-Fertigungslosgröße sowie einen Muss-, Kann- und Max­Punkt.

Der Max-Punkt gibt den maximalen Bestand wieder, bis zu dem der Lagerbestand höchsten aufgefüllt werden darf. Unter dem Muss-Bestand ist der Bestand zu verstehen, bei dem spätestens nach­produziert werden muss. Die­ser Muss-Bestand entspricht praktisch dem roten Bereich einer klassischen Ampel-Kan­ban-Steuerung. So wie man im Ampel-Kanban einen gel­ben Bereich kennt, bei dessen Erreichen nachgefertigt wer­den darf, aber nicht nachge­fertigt werden muss, berech­net das RPC-Modul einen Kann-Bestand mit derselben Bedeutung.

Hat das OCC alle Fertigungs­bedarfe, die durch das Unter­schreiten des Muss-Punkts ausgelöst worden sind, rech­nerisch mit Komponenten versorgt, so teilt es die weite­ren verfügbaren Komponen­tenbestände den Kann-Ferti­gungsbedarfen zu.

Ein Fünftel weniger Fertigwarenbestände – das ist erst der Anfang

Das zweistufige Replenish­ment-Konzept, gesteuert durch das Order Control Cen­ter (OCC) und die Replenish­ment-Parameter-Berechnung (RPC), haben den Steuerungs­aufwand im Unternehmen deutlich verringert.

Um die Bestandsentwicklung zu erkennen, muss man einer­seits den früheren Fertigwa­renbeständen die heutigen Be­stände an Fertiguhren sowie an Uhren (ohne Armbänder) gegenüberstellen. Aufgrund der starken Saisonalität ist es darüber hinaus erforderlich, gleitende 12-Monats-Durch­schnittsbestände zu verglei­chen. Nach einem Jahr im operativen Betrieb ergibt sich hieraus eine Bestandsreduzie­rung um 19 Prozent.

Konzepte, wie zukünftig Lie­ferzeiten verkürzt und die Lie­feranten in das ziehende Sys­tem eingebunden werden können, liegen vor und sollen nun in der nächsten Projekt­stufe umgesetzt werden.


Gervaise Voisard Logistics Manager bei Montblanc-Montre, Le Locle, Schweiz / Olaf Rellecke Manager Finance and Services bei Montblanc / Dr. Götz-Andreas Kemmner Geschäftsführer der Abels & Kemmner GmbH, Herzogenrath/Aachen AKemmner@ak-online.de
*) Die ABC-Klassifizierung teilt die Produkte nach ihrer Bedeutung für den Umsatz ein, die XYZ-Klassifizierung bewertet die Prognostizierbarkeit der Produkte anhand statistischer Kenngrößen.
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Dr. Bernd Reineke