Ungelöste Probleme der Supply Chain

Von Armin Klüttgen

Eine nachhaltige Bestandssenkung und Steigerung der Lieferbereitschaft sind nur möglich, wenn die demaskierten Schwachstellen der Supply Chain nicht erneut zugekleistert, sondern tatsächlich beseitigt werden. Ansonsten sind viele Anstrengungen für die Katz.

Mit viel Elan und bestem Willen werden vielerorts Bestandssenkungsprojekte angegangen. Die vom Management vorgegebene Marschroute lautet meist: 98 Prozent Lieferbereitschaftsgrad bei gleichzeitiger Senkung der Bestände um 25 Prozent. So etwas nennt man mit Recht Steigerung der Wirtschaftlichkeit und Kundenzufriedenheit zu einem erstklassigen Preis-Leistungs-Verhältnis. Mit viel Aufwand für die optimale Justierung der Disposition lassen sich diese Ziele auch immer erreichen. Stolzen Hauptes freuen sich die Projektbeteiligten über die erreichten Ziele: “Schlank und kundenorientiert sind wir jetzt und haben gleichzeitig unsere Liquidität gesteigert.” Beste Perspektiven also für die heiße Schlacht im harten Wettbewerb.

Müssen Projekte Eintagsfliegen bleiben?

Erste Ernüchterung

Nach Abschluss solcher Projekte und der ersten Euphorie über die erzielten Erfolge lässt die Ernüchterung jedoch nicht allzu lange auf sich warten. Weil ein ganzheitliches Projektmanagement fehlt, kehren die Bestandswerte oft schon nach wenigen Monaten wieder zurück, der Lagerumschlag sinkt wieder in Richtung altes Niveau und die angestrebte Lieferbereitschaft, auf die sämtliche Parameter des Bestandsmanagements zugeschnitten wurden, stellt sich nicht wie prognostiziert ein. Von Nachhaltigkeit also keine Spur. Hat dieses Projekt überhaupt Sinn gemacht? Man kann doch nicht ständig dieses aufwendige Prozedere erneut umsetzen! Sind Bestandssenkungsprojekte folglich Eintagsfliegen und letztlich nicht praxistauglich? Häufig werden wir zu Unternehmen gerufen, die zuvor vergeblich versucht hatten, ihre Bestände mit der internen Mannschaft zu senken. Eine Analyse der Zusammenhänge in solchen Projekten offenbart die eigentlichen Probleme erfolgloser Bestandssenkungsversuche.

Bestand verdeckt viele Probleme

Bestandsmanagementprojekte können nur erfolgreich sein, wenn auch die Störgrössen in der Supply Chain attackiert werden, denn diese sind häufig die Auslöser für einen erneuten Bestandsaufbau. Der Bestand verdeckt eben viele Probleme bezüglich Schrotterzeugung, Performance der Lieferanten, fehlender Flexibilität bei sich ändernden Marktanforderungen, mangelhafter Produktionsplanung und -steuerung sowie der Beherrschung störanfälliger Prozesse, weil man ja stets lieferbereit ist. Insofern muss man das Absenken des Bestandspegels als Demaskierung der Probleme verstehen, die es zu attackieren gilt. Man darf sie nicht einfach erneut mit Beständen kosmetisch überdecken! Doch in der Praxis wird vielfach lieber weiter an den Symptomen herumgedoktert als die Ursachen bekämpft.

Störgrössen sollten attackiert werden

Probleme bei der Beschaffung

  • Lieferanten liefern zu spät, zu wenig, zu schlechte Qualität.
  • Es gibt Einschränkungen des Vormaterialbezugs (zum Beispiel nur eine begrenzte Anzahl qualifizierter Routen).
  • Belieferungskonzepte (Anlieferfrequenz, Menge, Vorlaufzeit der Bestellung, Mindestbestellmengen usw.) verhindern eine bestandsarme Lösung.
  • Azyklischer Einkauf preislich sehr volatiler Materialien verursacht im Wechsel Lieferbereitschafts- und Bestandsprobleme.

Ein Unternehmen der Luxusgüterindustrie verzeichnete bei einem Teil seiner fremdbeschafften Materialien eine Quote von 10 bis 20, zum Teil gar bis zu 50 Prozent nicht verwendbarer Teile. Diese werden, wenn gemäß Qualitätssicherung zulässig, überarbeitet, was die Durchlaufzeit erhöht. Der Rest der Teile wird an die Lieferanten zurückgesendet und fällt somit für Nachbevorratungszwecke aus. Zusätzlich wird diese Unsicherheit überlagert durch Lieferterminabweichungen, die erheblich sein können.

Probleme in der Produktion

  • Es wird nicht produziert, was zu produzieren geplant war.
  • Störanfällige Prozesse (beispielsweise in der Metallindustrie) werden “sicherer gemacht”, indem man hinter der instabilen Fertigungsstufe Bestände aufbaut.
  • Verfahrenstechnische Zwänge führen zu Zwangsfluss des Materials in die Fertigung, vorgegebene Produktionsreihenfolgen und Kampagnenbildung erzeugen unerwünschte Bestandseffekte.

Bei einem Unternehmen der assemblierenden Fertigung nebelten die Meister in der Fertigung sämtliche Vorgaben der Planung dadurch aus, dass sie die Aufträge aus Gründen der “Wirtschaftlichkeit” und “Durchsatzoptimierung” in Eigenverantwortung zusammenfassten, um eine Optimierung der Losgrössen zu erreichen. Darüber hinaus wurden auch vorgegebene Reihenfolgen und Kampagnenbildungen im “Scheduling” übersteuert. Die Überzeugung, dass eine Losgrösse ihrer Aussage nach eben groß sein muss, ist leider allerorten noch sehr gegenwärtig. Diese Sichtweise ist jedoch einseitig auf die Effizienz der Produktion beziehungsweise oft auch nur eines einzigen Produktionsschrittes ausgerichtet. Die Sicht auf das Gesamtoptimum ist nicht gegeben.

Ein sensibles Element sind auch Ausschüsse (geplante und ungeplante Schrotte), die nicht oder nur mangelhaft in die Planung einbezogen werden. Dinge, die nicht sein dürften, werden halt nicht gerne geplant. Doch ein nicht sauber geplanter Ausschuss ist der Killer für einen hohen Lieferbereitschaftsgrad. Eine realistische Planung ist also insbesondere auch hier vonnöten.

Die Killer drohen überall

Probleme im Vertrieb

  • Der Vertrieb hält eigene Puffer vor. Das verfrühte Einlasten von Aufträgen oder die Verwendung von “Dummy-Aufträgen”, die Kapazitäten belegen und Vormaterial allokieren, sind dabei beliebte Spielarten.
  • Die Genauigkeit der Absatzplanung ist mangelhaft und die Integration unterschiedlicher, hierarchisch angeordneter Planungsebenen wird nicht konsequent verfolgt.
  • Bei standortübergreifender Produktion kommt es durch fehlende Abstimmung und Synchronisierung an den Schnittstellen der Unternehmen zu Lieferproblemen.

In einem Unternehmen der Metallbranche erzeugte sich der Vertrieb durch unterschiedliche Mittel eine zusätzliche Bestandsreichweite von ca. einer Woche. Man arbeitete offiziell mit einem internen und einem externen Soll-Termin, um nach außen hin die harten Deadlines einhalten zu können. Die Wurzeln dieser Systematik lagen in einer Zeit, wo die Produktion nicht ausreichend strukturiert war und der Vertrieb das Vertrauen in die Lieferbereitschaft der eigenen Fertigung verloren hatte. Mehr Bestand und täglich vielfache telefonische Versuche des Vertriebs, in die Produktionsplanung einzugreifen, waren die Folge.

Wenn der Vertrieb der eigenen Fertigung misstraut

Generische Probleme

Ungeachtet dieser Einzelaspekte und der im Nachhinein haarsträubend wirkenden Anekdoten aus der täglichen Praxis erheben letztlich zwei Probleme in der Planung und Steuerung der Bestände und Lieferbereitschaft den Anspruch darauf, die größte Verbreitung über alle Branchen hinweg gefunden zu haben:

  • Unzureichende Datenqualität, -vollständigkeit und -interpretation: Stamm- und Bewegungsdaten sind falsch oder unvollständig, werden nicht ausreichend gepflegt und unterschiedlich interpretiert. Und in heterogenen IT-Landschaften werden individuelle Insellösungen verwendet, die inhaltlich nicht konsistent zueinander und unterschiedlich aktuell sind.
  • Fehlende Bestandstransparenz: In vielen Unternehmen scheitert man häufig schon an der Beantwortung der Frage, wie hoch denn die Bestände sind. Dabei kann man doch nur verbessern, was man kennt.

Gegensteuern durch Planung

Will man den Preis der hohen Bestände und schlechten Lieferbereitschaft nicht (dauerhaft) zahlen, gilt es, nach einem Bestandssenkungsprojekt beziehungsweise begleitend zum Projekt die auftretenden Störungen maximal zu attackieren. Wenn dazu keine Freiheitsgrade existieren oder aber die Maßnahmen noch nicht abgeschlossen sind, sind sie planerisch zu berücksichtigen.

  • Lieferanten sollten qualifiziert werden, aber gleichzeitig auch Mängel in der Liefertermintreue oder aber der abgelieferten Qualität durch Liefer-Sicherheitsbestände in die Planung aufgenommen werden. Diese Bestände können sodann mit fortschreitender Lieferantenqualifizierung wieder reduziert werden.
  • Ausschussquoten in der Fertigung sollten für Qualitätssicherung und Verfahrenstechnik Anlass sein, Gegenmaßnahmen zu ergreifen, gleichzeitig aber sollten die Ausschussquoten entsprechend eingeplant und mit zunehmender Verbesserung reduziert werden.
  • Kampagnenplanungen, Losgrüssen sowie Rüstfolgen sollten auf den Prüfstand gestellt werden. Hier werden die Auswirkungen unterschiedlicher Parameter häufig falsch eingeschätzt.
  • Last but not least würden viele Unternehmen ganz erheblich von einer “Datenqualitäts- und -verfügbarkeitsinitiative” profitieren.

Für Bestandssenkungsprojekte ist es, um das große Optimierungspotenzial in Gänze ausschöpfen zu können, vielfach nicht ausreichend, eine isolierte, von der Supply Chain abgekoppelte Parameteroptimierung durchzuführen. Die enge Verzahnung der Prozesse und Strukturen innerhalb der Supply Chain machen den Blick über den Tellerrand hinaus und damit einen ganzheitlichen Ansatz zur Erreichung der Lieferbereitschaft bei minimalen Beständen zu einem Muss. So gelingt es, Bestandsreduzierungen Nachhaltigkeit zu verleihen, das vorhandene Potenzial vollständig zu realisieren und darüber hinaus die Basis für einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess zu legen.

Mut, Ausschüsse mit einzuplanen

Über Abels & Kemmner

Die Abels & Kemmner GmbH wurde 1993 von den Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaftlern Dr. Helmut Abels und Dr. Götz-Andreas Kemmner gegründet. Ein Schwerpunkt des Unternehmens ist die Straffung von Wertschöpfungsketten (SupplyChain-Optimierung) bei Serien- und Variantenfertigern sowie Großhandelsunternehmen. Bereits zweimal gewannen Supply-Chain-Konzepte, die mit Kunden erarbeitet wurden, Best-Practice-Preise. Aufsehen erregte A&K 1997 mit der Gründung des ersten Virtuellen Unternehmens aus sechs mittelständischen Unternehmen der Automobil-Zulieferbranche.

Den zweiten Schwerpunkt bilden Restrukturierungs- und Ertragssteigerungsprojekte. Durch erfolgreiche Sanierungen mittelständischer Unternehmen machte sich Abels & Kemmner einen Namen im Krisen- und Turnaround-Management. In den letzten Jahren war Abels & Kemmner an der Sanierung eines Großteils der größeren Unternehmensinsolvenzen im Saarland beteiligt.

Infos: ak-online.de

Armin Klüttgen, Senior Consultant bei Abels & Kemmner GmbH, ist Spezialist für Supply Chain Simulation, Abels & Kemmner Gesellschaft für Unternehmensberatung mbH, Kaiserstrasse 100. D-52134 Herzogenrath, Tel. +49 (0)2407 9565-0, ak-online.de
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Armin Klüttgen