Von reichweitenorientierter Disposition bis hin zu Push- und Pull-Systemen

Götz-Andreas Kemmner

In unserem Leitfaden zur Bestandsoptimierung gibt der Autor, basierend auf in vielen Projekten gesammeltem Wissen, wertvolle Anregungen, mit denen sich Überbestände vermeiden lassen. Standen im Mittelpunkt von Teil 1 der Serie in F+H 6/2008 das Erkennen von Überständen und Bestandstreibern auf dem “Stundenplan” erfahren Sie im vorliegenden zweiten und abschließenden Teil unter anderem wissenswertes zum Thema reichweitenorientierte Disposition. Um die Dringlichkeit des Themas Bestandsreduzierung deutlich zu machen, wurde in diesem Beitrag die Form der direkten Anrede gewählt.

Wird bei Ihnen im Unternehmen auch so gerne über kostenoptimale Bestellmengen diskutiert? Die Dissertationen und Diplomarbeiten zu diesem Thema nehmen kein Ende. Es ist ein so schönes, so systematisches Spiel mit Formeln und Einflussgrößen und doch so schön systematisch falsch. Erstens können Sie ohnehin nicht alle bedeutenden Kosteneinflüsse richtig bestimmen. Zweitens gibt es weitere Randbedingungen, die Sie in der Wahl der Losgröße ohne Rücksicht auf das Kostenoptimum einschränken. Drittens ändern sich die Kosten zwischen der Hälfte und dem Doppelten der optimalen Losgröße bei vielen Artikeln um weniger als fünf Prozent. Diese gehen in der Messungenauigkeit der Berechnung und Kostenerfassung unter. Deshalb:

Tipp Nr. 6: Disponieren Sie reichweitenorientiert

Schauen Sie sich lieber die voraussichtlichen zukünftigen Bedarfe am Ende der Wiederbeschaffungszeit an und fassen diese für einen vernünftigen Zeitraum zusammen. Für in größeren Mengen und regelmäßig nachgefragte Artikel kann ein Zeitraum von einer bis zwei Wochen der richtige sein, in manchen Branchen kann es sich jedoch auch um Stunden handeln. Bei selten nachgefragten kostengünstigen Artikeln dürfen es allerdings auch schon einmal mal sechs Monate sein. Steigt der voraussichtliche Bedarf, bestellen Sie mit diesem Verfahren automatisch mehr, lässt die Nachfrage nach, ordern Sie weniger. Demzufolge passt sich Ihre Bestellmenge Ihren tatsächlichen Bedarfen an.
Sofern Sie heute Artikel mit Meldebestand und starrer Losgröße disponieren, können Sie deren Bestand auf diese Weise i. Allg. deutlich senken.

Tipp Nr. 7: Qualifizieren Sie Ihre Disponenten

Viele Unternehmen gehen mit ihren Mitarbeitern um, wie die U. S. Navy Anfang des 20. Jahrhunderts mit ihren Piloten, nachdem sie die ersten Flugzeuge erhielt. Die Piloten wurden aufgefordert, sich das Fliegen selbst beizubringen. Von dieser Idee jedoch rückte die Navy schnell wieder ab, da die Materialkosten – erstaunlicherweise gab es kaum Personenschäden – beträchtlich waren. In der Kostenabwägung entschied sich die U. S. Navy schnell für die geringeren Schulungskosten statt der erhöhten Materialkosten. Kommt Ihnen dies irgendwie bekannt vor? In vielen Unternehmen müssen sich die Disponenten das “Fliegen” noch selbst beibringen oder werden von ihren Kollegen angelernt.
Versuchen Sie es einmal mit einer Schulungsstrategie. Sie werden sehen, die Bestände verringern sich wiederum ein wenig. In unseren Projekten, bei denen wir die Disponenten theoretisch und praktisch schulen, schmelzen Bestände auch in den Produktbereichen weg, um die wir uns noch gar nicht gekümmert haben.

Tipp Nr. 8: Ziehen Sie Ihre Planungsprozesse gerade

Jetzt sind Sie schon ein ganzes Stück des Optimierungsweges gegangen. Einige große Überbestandsfelsen liegen aber immer noch vor Ihnen. Um diese aus dem Weg zu räumen, benötigen Sie zunehmend tiefere Kenntnisse und eventuell auch schwereres Gerät und i. d. R. externe Unterstützung. Ein Beispiel soll dies veranschaulichen.
Stellen Sie sich vor, Sie sind in Berlin und wollen nach Mailand. Wenn Sie in das richtige Flugzeug steigen, haben Sie bereits einen Großteil der Reise geschafft. Der Weg vom Flughafen zum Mailänder Dom mag schwer zu finden sein, aber Sie sind zumindest schon einmal in der Nähe. Schwieriger wäre es, wenn Sie sich nach der Landung fragen würden, warum jetzt auf einmal alle Schwedisch sprechen. Sofern Sie Ihre Materialbedarfe nicht einfach auftragsbezogen ermitteln können, weil der Kunde sich in ausreichender Geduld übt, stehen Sie genau vor demselben Problem, aber in gravierenderer Weise.
Wenn Sie sich zu Beginn des Planungsprozesses, bei der Prognose der Bedarfe, bereits in die falsche Richtung bewegen, nutzt Ihnen die Präzision der späteren Planungsschritte rein gar nichts. Ein zuverlässiger Prognoseprozess ist deshalb eine unabdingbare Voraussetzung, um einen Großteil der Überbestände zukünftig zu vermeiden und den bestehenden Überbeständen sozusagen eine Chance zu geben, sich mehr oder weniger schnell abzubauen.
Auch hier will ich Ihnen nicht grundsätzlich abraten, gelegentlich auf die Prognosen Ihres ERP-Systems zu hören; sofern dieses überhaupt in der Lage ist, Bedarfsprognosen zu erstellen. Aber berücksichtigen Sie die folgenden Sachverhalte:

  • Praktisch alle Prognoseverfahren, die in unseren Standard-ERP-Systemen verfügbar sind, arbeiten statistisch falsch.
  • Ein Bedarfsplanungsprozess ist nicht dann besonders gut, wenn die Prognose die spätere Realität möglichst gut trifft, wie meistens angenommen wird, sondern dann, wenn am Ende des Bedarfsplanungsprozesses die geforderte Lieferbereitschaft mit einem möglichst geringen Durchschnittsbestand erreicht wird.

Eine vermeintlich gute Prognose kann in Verbindung mit falsch ermittelten Sicherheitsbeständen und je nach verwendetem Dispositionsverfahren zu ungenügender Lieferbereitschaft und überhöhten Beständen führen. Ein externer Fachmann kann Ihnen helfen zu überprüfen, ob die Prognosen Ihres ERP-Systems ausreichend gut sind oder Sie ein externes System einsetzen sollten, womit sich die nächste Empfehlung beschäftigt.

Tipp Nr. 9: Erst organisieren, dann optimieren

Externe Prognose-Optimierungssysteme sind häufig notwendig und hilfreich. Obwohl viele Unternehmen entsprechende Softwarelösungen einsetzen, ist es auf den ersten Blick verblüffend, dass diese dennoch ihre Bestände nicht senken konnten. Dies liegt daran, dass diese Systeme nicht richtig bedient und gepflegt werden. Es genügt also bei Weitem nicht, ein tolles System mit möglichst vielen Funktionen zu kaufen; es genügt auch dann nicht, wenn darüber hinaus noch eifrig geschult wird. Vielmehr müssen Sie Ihre ganzen Planungsprozesse auf den Einsatz des Prognosesystems abstimmen und Sie benötigen jemanden, der die Grundeinstellungen des kompletten Systems kompetent überwacht und regelmäßig pflegt.
Wenn Sie diesen Tipp beherzigen, verrostet Ihnen Ihre Investition nicht, sondern hilft Ihnen dabei, die Bestände deutlich nach unten zu drücken.

Tipp Nr. 10: Überprüfen Sie das Planungs- und Steuerungsprinzip

Dem gegenüber steht das Pull-Prinzip, das funktioniert, wie der Einkauf letzte Woche im Supermarkt: Leere Regale werden von der vorausgehenden Wertschöpfungsstufe immer wieder aufgefüllt. Das Pull-Prinzip ist vor allem in seiner Ausprägung als japanisches Kanban-System bei uns populär geworden.
Gegenwärtig gelten Push-Systeme als uncool und in vielen Unternehmen wird gepullt, was das Zeug hält. Alle wollen dabei sein und alle machen Kanban, auch wenn die Möglichkeiten und Kenntnisse nur für ein kleines Kanban-System zwischen Zentrallager und Montagelinie reichen.
Die Erfahrung zeigt, dass Pull-Systeme, sofern die logistischen und produktionstechnischen Randbedingungen den Einsatz ermöglichen, mit deutlich geringeren Umlaufbeständen auskommen, als Push-Systeme. Theoretisch müssten Push-Systeme präziser und bestandsärmer arbeiten können als Pull-Systeme. Gemeinerweise ist die Produktion aber ein im Detail nicht planbarer Prozess. Auf diese planerischen Unwägbarkeiten reagieren Push-Systeme viel sensibler als Pull-Systeme, woraus die höheren Umlaufbestände in der Praxis folgen.
Daraus den Schluss zu ziehen, dass Pull-Systeme immer die richtige Lösung sind, wie dies manche Verfechter japanischer Produktionsorganisation gerne tun, wäre jedoch grundfalsch, denn schaut man genau hin, gibt es nur wenige reine Push- oder reine Pull-Systeme.
Wenn Sie ganz oder teilweise in Serie produzieren, die Produkte oder Materialien einigermaßen gleichmäßig abfließen und die Entwicklungsabteilung nicht ständig mit technischen Änderungen aufwartet, dann sollten Sie in diesen Bereichen eventuell auf eine Pull-Steuerung umstellen. Führen Sie das Prinzip sauber ein und dimensionieren Sie es richtig, dann können Ihre Umlaufbestände in diesen Bereichen durchaus um mehr als 30 Prozent schrumpfen.

Tipp Nr. 11: Positionieren Sie Ihre Produktion richtig

Kochen Sie gelegentlich noch konventionell Kaffee, mit dem Kaffeetrichter auf der Kaffeekanne und gießen von Hand Wasser nach? “Kaffee aufbrühen” hat man dies früher genannt. Ist Ihnen der Kaffee nicht auch das eine oder andere Mal übergelaufen? Der Kaffee rinnt unten langsam aus dem Trichter, den man möglichst bis zum Rand voll hält – obwohl wir alle genau wissen, dass unten kaum mehr heraus fließt, nur weil wir den Kaffeetrichter oben bis zum Rand füllen. Und ehe wir uns versehen, tropft der Kaffee aus der Kanne, der Trichter ist aber noch halb voll.
Drängen die Aufträge, weil die Auftragsauslastung gut ist, neigen wir auch in der Produktion zum Kaffee-Aufbrühverhalten. Wir geben möglichst viele Aufträge in die Produktion, die im übertragenen Sinne aus einer ganzen Reihe von Kaffee-Aufbrühtrichtern besteht und wie der Kaffee zu Hause so laufen in der Produktion die Bestände über. Um die Umlaufbestände nach unten zu bekommen, hilft nur vernünftiges “Aufbrühverhalten’: Wenn Sie vorne weniger Fertigungsaufträge in die Produktion hineingießen, können die Bestände an den verschiedenen Trichtern in der Fertigung wieder abfließen, die Umlaufbestände sinken und Sie bauen wieder einige Bestände ab.

Der Fehlerkreis der Fertigungssteuerung
Der Fehlerkreis der Fertigungssteuerung

Ich weiß, über diese weise Erkenntnis verfügten Sie bereits. Warum nur ist die Produktion dann so voll? Wenn Sie Ihr “Aufbrühverhalten” länger durchhalten – und es soll Unternehmen geben, in denen dies schon passiert ist -, springen im PPS-System alle Statusmeldungen langsam aber sicher auf rot. Keiner weiß mehr, was zuerst gefertigt werden muss, die Umlaufbestände steigen immer weiter und dennoch wird der Ausstoß aus der Montage immer geringer. Man bezeichnet dieses Verhalten als den Fehlerkreis der Fertigungssteuerung (Bild). Es gibt nur eine Lösung diesen Teufelskreis zu durchbrechen, sofern Sie nicht die Produktionskapazität erhöhen können oder wollen und die lautet: Weniger Aufträge in die Produktion geben. Wer Sie ob dieses Vorgehens beschimpft, hat die Zusammenhänge nicht verstanden. Auch wenn Aufträge, die zur Fertigung anstehen, “lichterloh brennen”, nutzt es keinem, um beim Bild des Kaffeeaufbrühens zu bleiben, diese in die Produktion zu gießen, wenn der Produktionstrichter bereits voll ist. Es würden nur noch mehr Fertigungsaufträge brennen. Besser ein Kundenauftrag verbrennt in dieser Situation vor der Fertigung, als dass er in der Produktion einen Flächenbrand entzündet.
Wie viel Umlaufbestand die Produktion benötigt, lässt sich mit Betriebskennlinien ermitteln, deren Erläuterung allerdings im Rahmen dieses Beitrags zu weit führen würde. Als feldchirurgische Maßnahmen können Sie erstens versuchen Aufträge ungefähr gleichen Arbeitsinhalts in die Produktion zu geben und zweitens den Auftragszufluss in die Produktion vorsichtig so weit zu verringern, bis Sie das Gefühl haben, der Auftragsbestand an den Engpasskapazitäten werde zu gering. Dies wird nicht nur die Umlaufbestände in der Produktion spürbar senken, sondern auch der Produktion und Montage helfen, Durchlaufzeiten zu senken und Fertigstellungstermine besser einzuhalten.
Nach dem Studium der in Teil I und Teil II aufgeführten Ratschläge aus der Praxis kennen Sie nun den Weg, den Sie zurücklegen müssen, um Ihre Bestände zu reduzieren. Wenn Sie sich erst einmal bis Tipp Nr. 11 durchgekämpft haben, werden Ihre Überbestände größtenteils verschwunden sein, außer denjenigen natürlich, die nur noch verschrottet werden können. Viel Erfolg!


Dr. G.-A. Kemmner ist Geschäftsführer der Abels & Kemmner Gesellschaft für Unternehmensberatung mbH, Herzogenrath, und öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für die Wirtschaftlichkeitsbeurteilung von Industriebetrieben.
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Prof. Dr. Andreas Kemmner