Aus Fehlern lernen:
Es sind zuerst einmal leistungswirtschaftliche Defizite und nicht Finanzierungsprobleme, die Unternehmen in die Knie zwingen.
Welche Erfahrungen aus der Unternehmenssanierung und Empfehlungen zum rechtzeitigen Gegensteuern gibt es?
Die Insolvenzrate in Deutschland hat in der Wirtschaftskrise zugenommen. Wen wundert es: Märkte brechen weg, Banken wollen oder können erforderliches Fremdkapital nicht bereitstellen. Einerseits gibt es Unternehmen – und nicht zu wenige – , die die Wirtschaftskrise getroffen hat, und die sich trotzdem erfolgreich behaupten, andererseits müssen manche Unternehmen auch in moderateren Rezessionsphasen, sogar in Zeiten des Wirtschaftsaufschwungs, den Weg zum Insolvenzgericht antreten oder restrukturiert werden. In unseren Sanierungs- und Restrukturierungsprojekten sehen wir uns regelmäßig mit der Frage konfrontiert, warum ein Unternehmen nicht mehr ausreichend wettbewerbsfähig ist, denn hier liegen die Hebel, an denen man bei einer Restrukturierung ansetzen muss.
Fragt man die Unternehmen selbst oder verfolgt man die öffentliche Diskussion in den Medien, so dominieren immer wieder dieselben vermeintlichen Ursachen, die zu Liquiditätskrisen führen, wie:
- kurzfristiges Wegbrechen von Märkten
- mangelnde „Treue“ des Fremdkapitals
- der internationale Wettbewerb
- Währungsschwankungen
- Export- oder Import-Hemmnisse.
Zu großen Teilen sind dies jedoch nur die letzten Tropfen, die das berühmte Fass zum Überlaufen brachten. Die wirklichen Ursachen der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit liegen zumeist an anderen Stellen. Wie Hauschildt1 bereits vor langem verdeutlichte, lässt sich die Ursachen-Wirkungskette in den Unternehmen von einer Liquiditätskrise über eine Ertragskrise und eine Strategiekrise zu einer leistungswirtschaftlichen Krise zurückverfolgen.
Auch nach unseren Erfahrungen aus zahlreichen Restrukturierungs- und Sanierungsprojekten sowie Sachverständigenanalysen sind es letztlich leistungswirtschaftliche Defizite, die die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen erodieren lassen. Leistungswirtschaftliche Defizite können in guten Zeiten Ertrag, in schlechten aber das Leben kosten. Und nur wenn man an dieser Stelle ansetzt, kann man die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen langfristig sichern.
Unsere Erfahrungen zeigen darüber hinaus, dass die Probleme immer wieder an denselben Stellen der Wertschöpfungskette zu finden sind! Abbildung 1 gibt schematisch eine Wertschöpfungskette wieder. Betrachten wir eine Wertschöpfungskette genauer, wird deutlich, dass sie sich in fünf Schichten zerlegen lässt. Die unterste Schicht der Wertschöpfung stellen die Herstellungsprozesse dar; das, was an einer einzelnen Produktionsanlage oder Maschine getan wird. Die Herstellungsprozesse sind durch Materialflüsse (Schicht 2) miteinander verbunden. Die Materialflüsse werden durch Informationsflüsse (Schicht 3) angestoßen. Die Informationsflüsse wiederum werden auf der Planungs- und Steuerungsebene (Schicht 4) koordiniert („disponiert“). Die Planungs- und Steuerungsebene wiederum setzt das logistische Geschäftsmodell der Wertschöpfungskette (Schicht 5) um. Das Ergebnis der Wertschöpfungskette ist ein Produktportfolio, das sich am Markt behaupten muss.
Die zentralen Probleme, auf die wir immer wieder stoßen, befinden sich nun an folgenden drei Stellen:
- beim Produkt-Portfolio
- bei der Planung und Steuerung der Prozesse (Schicht 4), sowie
- beim angewendeten logistischen Geschäftsmodell (Schicht 5).
Diese drei Krankheitsherde wollen wir uns nachfolgend etwas genauer ansehen:
Krankheitsherde in Unternehmen
Abbildung 2 zeigt ein typisches Produkt-Portfolio, wie man es bei vielen Unternehmen auf der Fertigwarenseite findet. Die einzelnen Artikel wurden einerseits nach ihrer Umsatzbedeutung (ABC) und andererseits danach bewertet, wie regelmäßig der Markt die Artikel nachfragt (XYZ). Es zeigt sich, dass mit 20-30 % der Artikelnummern ca. 60-80 % des Umsatzes erwirtschaftet werden. Am anderen Ende des Portfolios werden mit 40-70 % der Artikel nur 3-4 % des Umsatzes erwirtschaftet, wofür ein beträchtlicher Anteil des Gesamtbestandes erforderlich ist.
Unten rechts im Produktportfolio, bei diesen CZ und CZ2-Artikeln, wird kaum Geld verdient. In Prozesskostenanalysen stellen wir immer wieder fest, dass diese Artikel, selbst dann, wenn die Deckungsbeiträge noch positiv erscheinen, bei genauer Kostenzuordnung Geld verbrennen: Hohe Bestände und damit Kapitalbindung im Verhältnis zum Umsatz; hoher Abwicklungsund Verwaltungsaufwand; hohes Verschrottungsrisiko.
Die wenigsten Unternehmen, nicht nur die wirtschaftlich schwachen, halten ihr Produktportfolio gepflegt. So verwundert es nicht, dass eine typische Methode bei der Sanierung und Restrukturierung von Unternehmen das sogenannte „Downsizing“ darstellt: Man trennt sich von einem verlustbringenden und aufwandgenerierenden Teil seines Produktportfolios. Im gleichen Zuge lassen sich überproportional Maschinen, Bestände, Infrastruktur und Personal abbauen und das Unternehmen kommt wieder in die Ertragszone. Bei einer regelmäßigen kritischen Pflege des Artikelportfolios könnten solche dramatischen Schritte vermieden werden. Kein Personalabbau einerseits und höhere Erträge andererseits.
Den zweiten Krankheitsherd stellt die vierte Schicht, die Planung und Steuerung der Wertschöpfungskette dar. Trotz 50 Jahren Erfahrung in Sachen PPS- und ERPSysteme verfügen viele Unternehmen noch immer nicht über eine durchgängige Planungskette von der Absatzplanung bis zur Fertigungssteuerung; häufig liegen manuelle Schritte in Form von Excelplanungen dazwischen. Statt die Planungsautomatismen des ERP-Systems zu nutzen, wird von Hand gearbeitet: das ERP-System dient nur als goldene Schreibmaschine.
Was vor 30 Jahren bei wenigen und einfacheren Produkten und Fertigungsprozessen noch per Wand-Plantafel möglich war, lässt sich heute nicht mehr aufrechterhalten. Die Bedeutung einer effizienten Disposition und Fertigungssteuerung wird in den meisten Unternehmen systematisch unterschätzt. 153 Mrd. € Überbestände2 in der Hochkonjunkturphase in Deutschland stellen nur eine Kennzahl für die Ineffizienz der Dispositionsprozesse dar. Ohne effiziente und in wesentlichen Bereichen automatisierte Planungs- und Dispositionsprozesse keine nachhaltige Wirtschaftlichkeit! In vielen Restrukturierungsprojekten, und nicht nur dort, lässt sich die Liquidität, die für die Durchführung von Maßnahmen erforderlich ist, aus dem Abbau von Beständen gewinnen.
Ein Unternehmen verfügt nicht nur über ein Unternehmens-Geschäftsmodell, sondern auch über ein logistisches Geschäftsmodel; häufig arbeiten beide Geschäftsmodelle nicht synchron, womit wir beim dritten Krankheitsherd angelangt sind: Während das Unternehmensgeschäftsmodell immer wieder den Anforderungen des Marktes angepasst wird, bleibt das logistische Geschäftsmodell oft unverändert bestehen (siehe Abbildung 3).
Hohe Variantenvielfalt, die viel zu früh schon zu Beginn der ersten Produktionsschritte gebildet wird, zu hohe Lieferbereitschaft bei selten nachgefragten Artikeln, falsche logistische Entkopplungspunkte oder fehlende marktsynchrone Produktion sind nur einige Beispiele für eine fehlende Abstimmung zwischen logistischem Geschäftsmodell und Unternehmensgeschäftsmodell.
Es genügt jedoch nicht, diese Problemfelder zu identifizieren, wenn es eigentlich zu spät dafür ist. Warum werden diese Probleme in vielen Unternehmen nicht rechtzeitig und in guten Zeiten behoben? Dafür lassen sich nach unserer Erfahrung vier wesentliche Ursachen identifizieren:
Interne Zielsysteme blockieren die richtige Lösung
Interne Zielsysteme sind heute sehr populär; im kleinen Mittelstand genauso wie in der Großindustrie. Was hilft besser, alle Führungskräfte für die Steigerung des Unternehmensertrags zu motivieren, als das Ziel der Ertragssteigerung auf Teilziele für die verschiedenen Unternehmensbereiche herunterzubrechen? Der Einkauf soll das Einkaufsvolumen im Verhältnis zum Umsatz verringern. Die Produktion soll die Auslastung der Anlagen steigern. Der Vertrieb soll den Umsatz erhöhen und die Logistik die Bestandskosten senken.
Jedes einzelne Ziel klingt schön; da die einzelnen Ziele aber nicht unabhängig voneinander sind, gehen verbesserte Zielgrößen eines Bereiches häufig zu Lasten anderer Bereiche. Auf diese Weise werden Bereichsegoismen gestärkt und jeder ist an seinem Optimum, aber keiner am Gesamtoptimum interessiert. So kommt es, dass gerade die Verbesserungsmaßnahmen auf der Strecke bleiben, die quer durch die Wertschöpfungskette wirken und am meisten zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens beitragen können: die Anpassung des logistischen Geschäftsmodells und die Disposition der Wertschöpfungskette. Aus den gleichen Gründen wuchern in vielen Unternehmen die Produkt-Portfolios wie Unkraut.
Um dieses Problem zu lösen, helfen zwei Ansatzpunkte: Einerseits werden konsistente Zielsysteme benötigt, in denen Verursachung und Verantwortung zusammengebracht werden und in denen die Führungskräfte mehr an ihrem Beitrag zum Gesamtertrag des Unternehmens gemessen werden. Andererseits müssen die Funktionen im Unternehmen gestärkt werden, die die Querschnittsverantwortung in der Wertschöpfungskette tragen, wie Logistik und Supply Chain Management. Die klassischen Fachabteilungen rutschen damit mehr in die Position von Dienstleistern.
Die eigene Fachkompetenz im Unternehmen wird überschätzt
In Krisensituationen wurden in der Vergangenheit in vielen Unternehmen einfach falsche Prioritäten bei deren Weiterentwicklung gesetzt. Teilweise fehlt die Fachkompetenz, Prioritäten richtig zu erkennen. Die meisten Führungskräfte kennen in ihrem Aufgabengebiet nur wenige Gestaltungsvarianten für bestimmte Aufgabenstellungen, mit denen sie in ihrem Berufsleben Erfahrungen gesammelt haben. Auf diese greifen sie immer wieder zurück, wandeln sie allenfalls leicht ab. Die Stärken und Schwächen dieser Lösungen können sie in der Folge schlecht beurteilen; besonders wenn sich die betrieblichen Randbedingungen am Markt ändern. Letztlich fehlen ihnen zumeist ausgefeilte Werkzeuge zur Gestaltung und Auslegung der richtigen Lösungen.
Da die Wertschöpfungsketten in den Unternehmen immer komplizierter und wettbewerbsintensiver werden, geht die Zeit zu Ende, in der man sich seine Hütte noch selbst zimmern konnte. Die Unternehmen müssen ihre konzeptionelle Wertschöpfungstiefe verringern und mehr auf externe Fachleute zurückgreifen, anstatt selbst zu „basteln“. Besser „Best Practice” einkaufen, statt „medium Practice” langwierig selbst entwickeln.
Langsame Entscheidungen wegen Führungsschwäche
Auch wenn ein Konsens nicht herbeizuführen ist, müssen Entscheidungen fallen. Führung im klassischen Sinne fehlt jedoch bei vielen Unternehmen: Wenn im Führungskreis kein Konsens über ein Problem oder eine Lösung besteht, wird bestenfalls weiterdiskutiert, es wird aber weder entschieden, noch werden Experten hinzugezogen, um das Problem zu fassen und eine Lösung zu entwickeln. Wenn die Mitarbeiter sich gegen eine Veränderung wehren, wird sie hinausgezögert, anstatt die Mitarbeiter zu überzeugen oder ihnen deutlich zu machen, dass es keine Alternative gibt.
Der Weg vom Leidensdruck, über den Konsens bezüglich des bestehenden Problems und die Meinungsbildung über die richtige Lösung, bis zur Hoffnung auf Besserung und Einleitung von Maßnahmen, dauert in vielen Unternehmen zu lange. Fast immer treffen wir in Sanierungsfällen auf einzelne Personen im Führungskreis des Unternehmens, denen die Probleme bekannt sind, die jedoch keine Entscheidungen durchsetzen konnten oder wollten. Die Ursachen mangelnder Führungsstärke haben nach meiner Erfahrung nicht nur etwas mit der einzelnen Persönlichkeitsstruktur zu tun, sondern rühren auch von mangelnder Qualifikation zur Problembeurteilung und Lösungsfindung her und werden durch die bereits erwähnten ungeeigneten Zielsysteme verstärkt.
Überlastung von Mitarbeitern und Führungskräften
Viele notwendige Entscheidungen im Unternehmen fallen auch deshalb zu langsam und viele Konzepte werden nicht sorgfältig genug entwickelt, weil in etlichen Unternehmen Führungskräfte und Mitarbeiter notorisch überlastet sind. Einerseits wird an jedem Kopf gespart, andererseits wird noch immer zu umständlich gearbeitet und letztlich wird zu viel Aufwand getrieben und damit Personal gebunden für Produktsegmente, in denen zu wenig Ertrag erwirtschaftet wird. Hiermit sind wir wieder beim Produktportfolio angelangt, und der Kreis schließt sich gewissermaßen.
Es gibt nichts Gutes, es sei denn, man tut es. Es geschieht ganz selten, dass sich Marktanforderungen und Anforderungen an die Wertschöpfungskette so schnell ändern, dass man als Unternehmen nicht hinterherkommen könnte. Voraussetzung dafür ist, dass sich kein Lösungsstau bildet, und ein Unternehmen seinen Wertschöpfungsmotor gepflegt und auf dem neuesten Stand hält. Wer erst in der Krise reagiert, hat weder die Zeit noch das Geld, nachhaltig wettbewerbsfähig zu werden, und kann nur improvisieren. Wenn er nicht mit seinem Untergang zahlt, dann zumindest mit seinem Tafelsilber.
1 Hauschildt, Jürgen: Krisendiagnose durch Bilanzanalyse, Köln 2000
2 Abels & Kemmner: Überbestandsanalyse Deutschland 2009. Quelle: https://ak-online.de/2009-03/pm2009-1