Interview mit dem eCommerce-Magazin
Im Gespräch: Dr.-Ing. Götz-Andreas Kemmner, Geschäftsführer der Abels & Kemmner GmbH, und Andreas Herbertz, Finanzierungsberater. Das Gespräch führte Dunja Koelwel, Chefredakteurin des eCommerce-Magazins.
Alternative Finanzierungen – wer hier an Venture Capital und Mezzanin-Kapital denkt, dem fehlt es laut Wirtschaftsberater Dr. Götz-Andreas Kemmner an Phantasie. Liquide Mittel lassen sich auch aus dem eigenen Unternehmen schaffen. Finanzierungsprofi Andreas Herberz hinterfragt das Konzept.
Dunja Koelwel, Chefredakteurin des eCommerce-Magazins, im Interview mit Dr.-Ing. Götz-Andreas Kemmner und Andreas Herbertz.
Koelwel: Man hört oft, dass Banken Mittelständlern keine Kredite mehr geben. Warum tun sich Banken mit der Finanzierung des Mittelstandes derzeit so schwer?
Kemmner: Wer Sicherheiten zu bieten hat, bekommt immer Geld. Viele können aber diese Sicherheiten nicht immer bereitstellen. Manche Unternehmer meinen noch immer, ihr Banker müsse auf ihrer Seite des Tisches sitzen und gemeinsam das unternehmerische Risiko tragen. Aufgabe und Ziel der Bank ist es jedoch, das Risiko, dass ein Kredit nicht bezahlt wird, so gering wie möglich zu halten, ohne das Kreditgeschäft zu gefährden, weil kein Unternehmen mehr Kredite von ihm haben will. Betrachtet man die Migrationsmatritzen – aus diesen Tabellen geht hervor, wie viel Prozent der Unternehmen, die im Vorjahr einer bestimmten Bonitätsklasse angehörten, im Folgejahr in andere Bonitätsklassen abgewandert sind – versteht man, warum Banken mit der Kreditvergabe vorsichtig sind. Gerade Unternehmen aus mittleren und schlechten Bonitätsklassen rutschen häufig schnell ab.
Hinzu kommt, dass Basel 2 und Basel 3 die Anforderungen an die Eigenkapitalsquote der Banken erhöhen. Je höher ein Kreditrisiko bewertet wird, desto höhere Sicherheiten muss die Bank auf ihrer Seite bereitstellen und desto höher fallen die Zinsen aus. Deswegen wird die Lage für den Mittelstand in naher Zukunft nicht entspannter. Viele Banken sprechen inzwischen gezielt Unternehmen, die Kredite bei ihnen haben, darauf an, ihren Kreditbedarf zu reduzieren. Üblicherweise sollen Unternehmen selbst aktiv werden. In solchen Fällen auf andere Kreditgeber zurückzugreifen, ist oft schwierig, da jeder potenzielle neue Kreditgeber die Finanzlage des Unternehmens kritisch hinterfragt und wissen will, warum sich die Hausbanken ein Stück zurückziehen. Hier kommt dann unser spezieller Ansatz einer alternativen Finanzierungsform zum Tragen.
Koelwel: Wie groß ist das Wissen um alternative Finanzierungsformen?
Kemmner: Die meisten Unternehmen kennen die Möglichkeiten, die es klassischerweise gibt. Das sind etwa die Mezzanine- Finanzierung und Venture Capital im Ersatz zum klassischen Kredit. Allerdings bedingen diese Formen, dass ein Unternehmen Entscheidungsgewalt aus der Hand gibt. Es beteiligt andere am Unternehmen, am Erfolg und am Risiko. Bei Venture Capital will der VC-Geber dezidiert mitsprechen und bei Mezzanine-Kapital halten die meisten Beteiligten zwar still, wollen dafür aber mehr Rendite.
Herberz: Wie hoch liegen diese Renditen ihrer Erfahrung nach?
Kemmner: Ich habe keine Statistiken, kenne aber Erwartungen von acht bis 12 Prozent und mehr. Acht Prozent kann als noch akzeptabler Wert gelten. Das muss man als schwachbrüstiger Mittelständler bei Banken auch auf den Tisch legen.
Herberz: Nicht nur als „schwachbrüstiger“ Mittelständler! Aus täglicher Erfahrung kann ich berichten, dass auch Mittelständler mit guter Bonität & Rating – unter anderem aufgrund der Eigenkapitalschwäche der deutschen Banken im internationalen Vergleich – im Kontokorrentverkehr bei sieben bis neun Prozent Zinsbelastung liegen. Und das, obwohl der Drei-Monats- Euribor, der als Grundlage für die Refinanzierung im Kontokorrent-Bereich herangezogen wird, aktuell bei gerundet einem Prozent p. a. liegt. Das heißt, wir sprechen über Bankenmargen, die sich zwischen sechs bis acht Prozent im vereinbarten Kontokorrent-Rahmen belaufen. Sobald die Kunden kurzfristig oder mittelfristig in den geduldeten Überziehungsbereich kommen, werden Kontokorrent-Zinsen von bis zu 15 Prozent p. a. verrechnet.
Kemmner: Ich gebe Ihnen Recht, dass manche deutschen Banken die Margen benutzen, um die Verluste der letzten zwei Jahre wieder wettzumachen. Die Erfahrung, die ich im Sanierungsbereich immer wieder gemacht habe, ist, dass Mittelständler bei kleinen Regionalbanken etwa den Volksbanken, den Raiffeisenbanken oder Sparkassen besser fahren als bei Großbanken. Bei Großbanken ist der Mittelständler eine Nummer, bei dem alles nach einem Schema durchkalkuliert wird. Bei den Regionalbanken wird eher berücksichtigt, dass mit einem nicht gewährten oder verlängerten Kredit möglicherweise eine ganze Lawine an Privat- und Immobilien- Krediten, die Mitarbeiter des Unternehmens bei derselben Bank aufgenommen haben, mit ins Tal zu stürzen droht.
Koelwel: Wie lauten die ersten Fragen, die ein Unternehmen an Sie stellt?
Kemmner: Die typische erste Frage, die gestellt wird, lautet oft: Geht das überhaupt, Bestände zu reduzieren, ohne die Lieferfähigkeit und damit die Wettbewerbsfähigkeit zu gefährden? Dass man durch die Reduzierung von Lagerbeständen und Umlaufvermögen Liquidität schöpfen, Kosten reduzieren und trotzdem lieferfähig bleiben, ja sogar lieferfähiger werden kann, haben viele Mittelständler für sich noch gar nicht erkannt.
Koelwel: Warum sind alternative Finanzierungen jenseits von VC und Mezzanine-Kapital für den Mittelstand interessant?
Kemmner: Die Reduzierung von Working Capital führt zu Liquiditätsverbesserung und das ohne unternehmerische Einschränkung. Eine Fremdfinanzierung durch Mezzanine-Kapital oder Venture Capital heißt für das Unternehmen immer in irgendeiner Weise, entweder Entscheidungskompetenz oder Rendite oder beides abzugeben. Der Vorteil einer Innenfinanzierung durch Reduzierung von Working Capital besteht darin, dass man Herr eigener Entscheidungen und eigener Rendite bleibt. Man nimmt kein Fremdkapital auf, das man teuer bezahlen muss, sondern reduziert Kosten, und dies drastisch. Wenn man die Kosten des Vorratsvermögens betrachtet, denken viele vor allem an Finanzierungskosten des Kredits von beispielsweise sechs bis acht Prozent. Die Gesamtkosten, quasi die tatsächlichen Finanzierungskosten des Vorratsvermögens, liegen jedoch oft zwischen 19 und 30 Prozent. Häufig müssen Unternehmen von ihren Vorräten einen Teil abschreiben, etwa weil Haltbarkeitsdaten überschritten sind oder die Produkte nicht mehr zu den Gestehungskosten verkauft werden können. Man muss das Gekaufte oder Produzierte lagern, gegebenenfalls auch extern und benötigt dafür Infrastruktur. Weiter muss man Personal bezahlen, das den Lagerbestand verwaltet. Diese und weitere Kosten müssen zu den Finanzierungskosten addiert werden. Daher kostet Vorratsvermögen nicht etwa nur acht Prozent Fremdfinanzierung, sondern zwischen 19 und 30 Prozent im Jahr. Wenn Ihnen eine Bank für einen Kredit 30 Prozent Zinsen abverlangen würde, wäre dies ein sittenwidriges Rechtsgeschäft. Mit sich selbst gehen Unternehmen kritiklos solche sittenwidrigen Rechtsgeschäfte ein, indem sie sich Geld für acht Prozent von der Bank holen und jedes Jahr stillschweigend bis zu 22 Prozent Betriebskosten drauflegen.
Herberz: Setzt hier Ihre Beratung in Rahmen eines SCM an, um dieser Entwicklung und der Ausweitung des Umlaufvermögens gegenzusteuern, es im Idealfall zu reduzieren?
Kemmner: Genau. Man schafft Liquidität, indem die Kreditlinie der Banken konstant bleibt, man Lagerkosten reduziert und den entstandenen Puffer für Expansionen oder zur Verringerung der Kreditbelastung bei der Bank nutzt. Das ist das Faszinierende daran: wenn ich einen Kredit aufnehme, erhöhe ich meine Liquidität, aber auch meine Kosten. Lagerbestandsreduktion reduziert die Kosten und erhöht gleichzeitig die Liquidität. Die Kunst besteht darin, Bestände so zu reduzieren, dass ich mit dem reduzierten Vorratsvermögen immer noch meine Lieferfähigkeit aufrecht erhalten, vielleicht noch ausbauen kann. Dies lässt sich mit geeigneten Ansätzen in jeder Branche erreichen, von der Luxusindustrie bis hin zur Palettenfertigung – logistisch betrachtet geht es immer wieder um die gleichen Fragestellungen. Als Faustformel kann man festhalten, dass in acht von zehn Unternehmen mindestens 20 Prozent Bestandsreduzierung zu erreichen sind. Für ein statistisches Durchschnittsunternehmen des verarbeitenden Gewerbes ermöglicht dies, die Kassenmittel um 60 Prozent zu erhöhen oder 30 Prozent der Verbindlichkeiten zu reduzieren. Das Problem vieler Unternehmen, nicht nur der Mittelständler, besteht darin, dass zwar immer wieder an der Bestandsreduzierung gearbeitet wird, die Effekte aber nicht nachhaltig sind. Nachhaltigkeit erreicht man nur, wen man dafür sorgt, dass Dispositionsentscheidungen möglichst objektiv gefällt werden.
Praktisch alle Unternehmen setzen heute ERP-Systeme ein, um unter anderem ihr Lager zu disponieren. Bei den wenigsten arbeitet das System sauber, strukturiert und mit dem richtigen Fokus. Viel wird von Hand gesteuert. Wenn wir ein Bestandsreduzierungsprojekt starten, ziehen wir uns als erstes aus dem ERP-System Daten, anhand derer wir berechnen können, welche Bestände im Unternehmen liegen müssten, wenn man sich nach den Dispositionsvorschlägen des ERPSystems richten würde. Daneben sehen wir uns an, welche Bestände tatsächlich im Unternehmen vorhanden sind. Zwischen beiden Werten lassen sich fast immer gravierende Abweichungen feststellen. Das heißt nicht, dass Mitarbeiter falsch disponieren oder das System falsch arbeitet. Es zeigt aber, dass das ERP-System „hü“ sagt, während am Ende des Dispositionsprozesses „hott“ steht. Eigentlich sollten beide Bestandswerte nahe beieinander liegen. Die Unterschiede kommen daher, dass die Systeme die Prozesse im Unternehmen meist nicht richtig abbilden und die Mitarbeiter von Hand nachsteuern. Nur durch einen Automatismus im ERP-System bekommt man stringentere Zahlen. Deswegen sollten Mitarbeiter möglichst nie mehr als 20 Prozent der Dispositionsvorschläge des ERP-Systems nachtarieren müssen. Wir stellen immer wieder fest, dass Disponenten oft meinen, die Dispositionsvorschläge des ERP-Systems korrigieren zu müssen, als dies tatsächlich erforderlich ist. Für mich stellt sich die Situation ähnlich dar wie im Fondsmanagement: jedes Jahr liest man, welche Investmentfonds durch geschickte Dispositionsentscheidungen der Fondmanager den DAX geschlagen haben. Wenn man die Performance vieler Fonds über Jahre verfolgt, zeigt sich, dass im Grunde immer der DAX siegt. Ähnliche Mechanismen wirken auch bei Dispositionsentscheidungen in Unternehmen. Im Schnitt schlagen Disponenten ein sauber konfiguriertes und regelmäßig nachjustiertes ERP-System nicht. Alle haben Beispiele, wo sie besser waren als die Systeme und durch ihren Eingriff krasse Fehlentscheidungen vermeiden konnten, blenden aber aus, an welchen Stellen sie selbst Fehlentscheidungen getroffen haben. Da ein ERP-System nicht über alle Informationen verfügt, die der Mensch hat, gibt es immer wieder Gründe für Disponenten, Systemvorschläge zu übersteuern. Die Bewusstsein bei den Mitarbeitern aufzubauen, wann sie eingreifen und wann sie den Systemempfehlungen folgen müssen, ist ein wichtiger Aspekt einer nachhaltigen Liquiditätsverbesserung.
Koelwel: Der Ansatz passt für das produzierende Gewerbe und für Online-Händler?
Kemmner: Der Ansatz passt für alle, die Vorräte finanzieren müssen. Voraussetzung ist lediglich, dass das Unternehmen Vorräte halten muss.
Koelwel: Wie lange dauert bei Ihnen ein übliches Projekt?
Kemmner: Im Schnitt benötigt ein Projekt drei bis vier Monate. Die Dauer hängt zu 80 Prozent vom Unternehmen ab und wie es in der Lage ist, mitzuarbeiten. Entscheidend ist dafür die Unternehmenssituation. Ist ein Unternehmen in einer kritischen Lage, wird eher etwas Zeit vom Tagesgeschäft abgeknapst und man kommt schneller voran, teilweise auch deshalb, weil der Berater das Projekt schneller durchziehen muss. Besser ist es natürlich, man reagiert im Unternehmen rechtzeitig und kann ein Projekt so schnell oder so langsam durchführen, dass das Projektteam durch die Mitarbeit im Projekt kontinuierlich weiterqualifiziert wird. Wir verwenden in unseren Projekten ein eigenentwickeltes Simulationsmodell, das auf Forschungsarbeiten der RWTH Aachen zurückgeht. Üblicherweise stellen wir das Optimierungsziel so ein, dass das Kostenminimum und nicht das maximal mögliche Bestandsminimum angestrebt wird. Bei dieser Betrachtung spielen auch Beschaffungskosten und Einkaufkonditionen eine Rolle. Allerdings setzen wir häufig einen Schritt vorher an, indem wir mit Lieferanten Gespräche führen, wie Kunde und Lieferant gemeinsam die Prozesse vereinfachen können. Viele Händler versuchen etwa, Kosten dadurch zu reduzieren, dass sie mit ihren Lieferanten Konsignationslager vereinbaren. Ich bin kein Freund dieser Lager, bei denen der Kunde bestellt und der Lieferant nach einer definierten Zeit zu liefern hat. Sie verbessern zwar die Liquidität, erhöhen aber die Beschaffungskosten, da der Zulieferer seine Finanzierungskosten auf die Preise umlegt, und die internen Lagerhaltungskosten, über die wir vorhin bereits gesprochen haben, weiterbestehen. Weiter kommt man in vielen Fällen – zumindest wenn man im europäischen Raum einkauft – via VMI (Vendor Managed Inventory), denn so entkoppelt man den Lieferanten vom eigenen Bedarfsrhythmus. Das gibt dem Lieferanten Spielräume, seine eigene Produktionsauslastung und Disposition zu optimieren und damit selbst Kosten zu sparen, statt den Kunden mit weiteren Kosten zu belasten. Solche VMI-Konzepte erfordern allerdings, dass der Lieferant die aktuellen Lagerbestände seines Kunden kennt und von diesem Prognosen über die weitere Bedarfsentwicklung erhält.
Fremdfinanzierung ist also teuer, vor allem, wenn man die Kredite zum Aufbau von Beständen nutzt und damit den Finanzierungskosten noch Betriebskosten hinzufügt. Kann man umgekehrt Liquidität durch die Reduzierung des Vorratvermögens schaffen, verringert man die laufenden Kosten drastisch. Den richtigen Betriebspunkt zu finden und nachhaltig einzuhalten, dabei kann unser Modell helfen. Erst wenn ein Unternehmen aus der eigenen Wertschöpfungskette keine Liquidität mehr schaffen kann, dann sollte es sich an Banken wenden.