Bestandsreduzierung ohne Out-of-Stock Gefahr – Ein Widerspruch?

Der Einzelhandel hat beträchtliche Bestandssenkungspotenziale, die es zu identifizieren und zu heben gilt. Mit hohen Beständen sowohl in den Zentrallägern als auch in den Outlets wird versucht, Schwachstellen in den Prozessen zu überdecken, die Engpässe, Out-of-Stocks und Lieferverzögerungen verursachen. Dabei könnten mit besserer  Dispositionsunterstützung vor allem im Mittelstand beträchtliche Bestandsreduzierungspotenziale erschlossen werden, ohne die Lieferfähigkeit zu gefährden.

Durchschnittlich sind 13% des Einzelhandelsumsatzes in Beständen gebunden. Daraus resultiert eine Bestandsreichweite, die deutlich über einem Monat liegt. Die sich hieraus ergebenden beträchtlichen Kostensenkungspotentiale werden jedoch häufig nicht erkannt und schlummern ungenutzt in den Lägern der Händler. Erstaunlich, wenn man die schwachen Margen dieser Branche berücksichtigt.

Ein entscheidendes Argument gegen das Senken von Beständen im Einzelhandel rührt sicherlich daher, dass trotz moderner Logistik- und ERC-Systeme (Efficient Consumer Response) nach wie vor häufig Stocks-Outs (Regallücken) in den Einzelhandelsfilialen auftreten. Untersuchungen zeigen jedoch, dass die Hauptursachen von Stock-Outs zumeist auf den letzten 10 Metern zum Regal zu finden sind. Sie sind folglich nicht durch die Optimierung der Supply-Chain oder durch erhöhte Bestände stromaufwärts in der Lieferkette zu verbessern.

Fehlende Artikel im Regal führen für Handel und Hersteller zu geringeren Umsätzen. So wechseln Verbraucher laut Studien zwar sehr oft die Marke und weniger die Einkaufstätte, wenn das gewünschte Produkt nicht im Regal verfügbar ist. Betrachtet man jedoch die neunprozentige Nichtkaufquote, so gehen dem europäischen Lebensmitteleinzelhandel und damit auch den Herstellern jährlich über 4 Mrd. Euro Umsatz durch nicht im Regal verfügbare Artikel verloren.

Warum jedoch sind viele Einzelhandelsfilialen nicht ausreichend lieferfähig? Studien zeigen (z.B. OSA Studie Roland Berger 2003), dass der Bereich „In Store Logistik“ (Store Ordering, Regalservice) überproportional hoch als Fehlerursache ins Gewicht fällt. Die wichtigsten Ursachen hierbei:

  • fehlendes Personal für Regalbestückung
  • schlechte Lagerorganisation
  • seltene Out-of-Stock Checks am Regal (Ausnahmenbearbeitung)
  • fehlende Regaletiketten – unzureichende Sortimentsumsetzung
  • falsche Buchbestände
  • zu späte oder keine Bestellauslösung
Kaufverhaltensstudie Europa versus Deutschland
Kaufverhaltensstudie Europa versus Deutschland

Ein Blick auf das Kaufverhalten macht deutlich, welchen Stellenwert die Produktverfügbarkeit am Point of Sale für den Kunden einnimmt. Immerhin 9% der Kunden in europäischen Einzelhandelsgeschäften kaufen gar nichts, wenn der gewünschte Artikel nicht im Regal aufzufinden ist. (Quelle: ECR Europe)

Das heißt, fast Dreiviertel der identifizierten Regallücken entstehen im Einflussbereich der Filiale. 10% gehen auf das Konto des angeschlossenen ERP-Systems (Dispositions- und Prognosesystem) mit falschen Forecasts, zu hohen Mindestbestellmengen oder falscher Parametrierung auf Artikel- und Lieferantenebene. Lediglich 4% der untersuchten Regallücken sind aufgrund von Belieferungsfehlern des Herstellers entstanden und immerhin 12% werden durch Listungsdiskrepanzen verursacht! Diese Zahlen belegen, dass falsche Dispositionsmechanismen bei Hersteller und Händler lediglich für 14% der Out-of-Stocks verantwortlich sind. Sie sind jedoch für gut 80% der vorhandenen Überbestände verantwortlich.

 Falsche Dispositionsmechanismen sind für 80% der Überbestände in der Supply Chain verantwortlich und immerhin noch für 14% der Out-of-Stocks.

Bestände hochzufahren, um Lieferbereitschaft zu erzielen, ist , wie weitere Untersuchungen zeigen, der falsche Ansatz für die richtige Lösung.  Hersteller und Handelsunternehmen, die Ihre Supply Chain effizient steuern, erreichen tendenziell mit deutlich niedrigeren Beständen, geringere Out-of-Stock Raten, wie Untersuchungen des ECR Europe zeigen…

Stock-outs am Point of Sales
Verhältnis zwischen Bestandsniveau und Out-of-stock-Rate

Geringe Bestände und hohe Lieferbereitschaft stellen auch im Einzelhandel keinen grundsätzlichen Widerspruch dar. Erreicht werden kann das Ziel geringer Kapitalbindung allerdings nur, wenn mit den richtigen Ansätzen gearbeitet wird. Zwei Handlungsfeldern  ist an dieser Stelle größere Aufmerksamkeit zu widmen: Der Bedarfs- bzw. Absatzprognose sowie der Dispositionsoptimierung.  Während die Dispositionsmechanismen überall im Handel noch deutlich verbessert werden können, hat im Bereich der Absatz- und Bedarfsprognose vor allem der Mittelstand noch Hausaufgaben vor sich.

Mit modernen Simulationssystemen, wie z.B. DISKOVER SCO,  lassen sich heute Regelwerke zur artikelspezifischen Einstellung von Dispositionsparametern und Prognosemechanismen simulativ optimieren und operativ unterstützen. Lieferbereitschaft und Bestandsniveaus in Lager und Lieferkette lassen sich damit unternehmensspezifisch austarieren und laufend nachjustieren.

Beispiel eines simulativ ermittelten Entscheidungsbaumes

Fazit

Nicht zu niedrige Bestände in der Lieferkette vom Hersteller zur Filiale des Handelsunternehmens, wie häufig vermutet, sondern falsche Organisationsabläufe in den Filialen, verursachen 70% aller Verfügbarkeitsprobleme in den Regalen. Die Bestände in der Lieferkette stellen vielmehr ein noch ungenutztes Potenzial zur Verringerung des Umlaufkapitals und zur Reduzierung der Kosten des Handels dar.

In zahlreichen Projekten zur Analyse von Überbeständen konnte Abels & Kemmner immer wieder nachweisen, dass allein durch die richtige Parametrierung der Stellgrößen des bestehenden Dispositionssystems bei 75% der Unternehmen mehr als 20% an Bestandsreduzierung bei gleichem Lieferbereitschaftsgrad erreicht werden konnte.

Im harten Wettkampf der Retailer wird deshalb zunehmend die Fähigkeit, wie gut Unternehmen in Zukunft ihre Bestände steuern und überwachen, immer mehr an Bedeutung gewinnen.

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Prof. Dr. Andreas Kemmner