In der letzten Ausgabe der POTENZIALE haben wir Ihnen im ersten Teil unseres Best-Practice-Artikels über das Produkt-Portfoliomanagement einige erste Schritte gezeigt:
Unter anderem haben wir Ihnen erklärt, warum sich in den meisten Unternehmen irgendwann eine “CZ-Explosion” ereignet und warum regelmäßige Kontrolle der vier wichtigsten Bestandsdimensionen ABC, XYZ, STU sowie ELA diese verhindern helfen kann.
Wir haben auch bereits über die Exoten im Produkt-Portfolio gesprochen. Exoten werden in geringen Mengen verkauft und weisen damit geringe Lagerdurchsätze auf. Für die allermeisten Exoten gilt daher, dass sie äußerst unregelmäßig nachgefragt werden und damit in die CZ- und CZ2-Klassen des Produkt-Portfolios fallen. Verfolgt man die Zusammensetzung eines Produktportfolios über die Jahre, so stellt man fest, dass die Anzahl der Artikel nicht gleichverteilt über alle Portfoliofelder zunimmt, sondern vor allem im Bereich CZ und CZ2 anwächst.
Das ist nicht verwunderlich, denn jedes Neuprodukt beginnt sein Leben als CZ2 oder zumindest CZ-Artikel. Ist es am Markt erfolgreich, entwickelt es sich im besten Falle zu einem AX-Artikel, bewegt sich zumindest aber aus der CZ-/CZ2-Ecke heraus. Die Naturgesetze des Marktes bedingen leider, dass den wenigsten Artikeln ein entsprechend großer Erfolg beschieden ist. Die Mehrheit aller Artikel findet nie den Weg aus den Tiefen des Produktportfolios in die Höhen des Markterfolgs. Somit reichert sich das Produktportfolio weit überproportional im CZ-/CZ2-Bereich mit Artikeln an.
Über die Probleme bei der Kalkulation der Kosten und damit des Preises eines Artikels sprachen wir bereits am Anfang. Die Kalkulationsprobleme führen tendenziell dazu, dass CZ- und CZ2-Artikel in ihren tatsächlichen Kosten unterschätzt und AX-Artikel in den ihrigen überschätzt werden. Diese Kalkulationsverzerrung kann man sich am Beispiel des Vertriebs einfach vor Augen führen. Viele von uns kennen aus ihren Unternehmen die Starverkäufer, die für wichtige Key accounts zuständig sind oder dominante Produktrenner verkaufen. Neben diesen wenigen Stars kämpft im Vertrieb oft eine große Anzahl an fleißigen Verkäufern an kleinteiligen Produkt- und Kundenfronten. Während die vermeintlichen Stars kaum verkaufen sondern nur noch notieren müssen, welche Mengen ihre Kunden wünschen, müht sich die restliche Schar redlich, das berühmte „saure Bier“ unters Volk zu bringen.
Allzu oft werden die Gesamtkosten des Vertriebs nur nach „Tragfähigkeit“ umgelegt, was nichts anderes bedeutet, als dass sie proportional zum Umsatz auf die Produktkalkulation geschlagen werden. So tragen 20% der Rennerartikel schnell 80% der gesamten Vertriebskosten.
Was dadurch passiert, erleben wir laufend und immer wieder im Wirtschaftsleben und in praktisch allen Branchen: Bei zu vielen CZ- und CZ2-Artikeln müssen die AX-Artikel zu teuer verkauft werden. Dies ermöglicht es Wettbewerbern, in das Segment der AX-Artikel mit kostengünstigeren Angeboten einzubrechen.
Das klassische Beispiel für diese Entwicklung liefern die Lebensmittel-Discounter in Deutschland. Über Jahre nahmen sie dem klassischen Einzelhandel Marktanteile ab. Sie konzentrierten sich auf wenige Artikel: die AAXX-Artikel des täglichen Lebens. Dadurch konnten sie ihre Wertschöpfungskette kostengünstig gestalten und in großen Mengen mit entsprechenden Rabatten einkaufen. Der klassische Einzelhandel bietet neben Rennerartikeln des Diskoutmarktes ein breites Sortiment weiterer Artikel, auch vielen echter Exoten an und muss, um dies finanzieren zu können, seine Rennerartikel im Durchschnitt teurer verkaufen als der Diskounter.
Halten Sie dies für einen Sonderfall des Einzelhandels? Schauen wir uns die Entwicklung im deutschen oder schweizer Werkzeugmaschinenbau an, können wir einen ähnlichen Effekt erkennen. In den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts war die Werkzeugmaschinenindustrie stolz auf die kundenspezifischen Speziallösungen, die sie dank ihres Engineeringvorsprungs gegenüber der gerade aufkommenden japanischen Konkurrenz anbieten konnte. Welcher Kunde wollte schon „butterweiche“ Drehmaschinen, die sich bei jeder Bearbeitung eines größeren Teils verbogen und nur geringe Fertigungstoleranzen einhalten konnten, …meinte man.
Die butterweichen japanischen Drehmaschinen waren aber günstig, weil sich die Hersteller – wohl mehr aus Engineeringdefiziten als aus marktstrategischen Überlegungen – auf Standardmaschinen konzentrierten. Vielleicht gar nicht so überraschend, benötigten viele Kunden diese butterweichen Maschinen. Für kleine, wenig anspruchsvolle Teile waren sie durchaus wirtschaftlich. Über den Hebel solcher wenig spannender Brot-und-Butter-Maschinen eröffneten sich die japanischen Hersteller den Weltmarkt. Die mitteleuropäische Werkzeugmaschinenindustrie holte erst wieder Marktanteile zurück, als sie es dank ihrer Engineeringkompetenz verstand, ihre Produkte nach Baukastenprinzipien aufzubauen und damit Standard und kundenspezifische Lösungen eng miteinander zu verknüpfen.
Das AX-Portfolio ist die typische Angriffsstelle, an der neue Konkurrenten in bestehende Märkte einbrechen. Aus diesem Grunde lautet die Best-Practice-Baustein 3:
Erfolgreiche Unternehmen halten ihr Portfolio-Floß im Gleichgewicht.
Will ein Unternehmen den Weg gehen und sein Produktportfolio bereinigen, darf es sich nicht vor dem Gespenst der Sortimentszwänge fürchten, den Grundprinzip 4 besagt: Sortimentszwänge sind die Scheuklappen der Produktpolitik.
Wenn eine wirtschaftliche Partei eine andere zwingt, nicht nur die von der anderen Partei gewünschten Produkte abzunehmen oder zu liefern, sondern ein mehr oder weniger definiertes breiteres Sortiment, dann spricht man von Sortimentszwang.
Sortimentszwang findet man auf der Anbieterseite, vorwiegend im Business-to-Business-Geschäft. Sortimentszwang kann durch einen Anbieter ausgeübt werden, der seine Kunden zwingt, ein Komplettsortiment abzunehmen oder von Kunden, die fordern, dass ein Lieferant neben den von ihnen regelmäßig und in großen Mengen benötigten Artikeln auch seltene und unregelmäßig benötigte bereithält.
Ein vom Kunden eingeforderter Sortimentszwang ist selten vertraglich fixiert, sondern wird vom Vertrieb als Serviceleistung verstanden oder in vorauseilendem Gehorsam erbracht.
Unter dem Gesichtspunkt der Produkt-Portfoliomanagements spielt der Sortimentszwang durch den Kunden eine ungute Rolle. Mit echten, durch den Markt oder explizite Kunden ausgeübten Sortimentszwängen ist äußerst vorsichtig umzugehen, trotzdem stellen wir regelmäßig fest, dass Sortimentszwang eine der meist-überschätzten Kriterien im Produkt-Portfoliomanagement darstellt. Dies klingt sehr gewagt für einen Logistiker. Sortimentszwänge sind jedoch keine neblige Angelegenheit, sondern lassen sich statistisch erfassen und hinterfragen:
- Wie oft wurde, wenn das Produkt A gekauft wurde, auch das Produkt B mitgekauft?
- Wenn mit Produkt A häufig auch Produkt B gekauft wird,
- könnte stattdessen nicht auch Produkt C angeboten werden?
- handelt es sich dann um einen Zwangszusammenhang für den Kunden oder nur um eine Sammelbestellung?
So wichtig, wie Sortimentszwang im Einzelfall sein kann, so unwichtig ist er in vielen anderen Fällen der Produktsortimentspolitik. Würde ein Unternehmen sein Produktportfolio nur nach den vermeintlichen Sortimentszwängen seiner Kunden gestalten, würden sich alle Probleme des Unternehmens mittelfristig in der Insolvenz auflösen.
Über das Produktportfolio entscheiden noch eine ganze Reihe weiterer Kriterien, strategischer, wie betriebswirtschaftlicher Art. Letztlich muss mit dem aktuellen Produktportfolio Geld verdient werden, deshalb kann niemand die Augen vor den Deckungsbeiträgen der einzelnen Produkte verschließen. Wirtschaftliche Zwänge werden weiterhin von den Sicherheitsbeständen ausgeübt, die erforderlich sind, um ein Produkt auf dem erforderlichen Niveau der Lieferbereitschaft zu halten. Auch die Restbestände, die verbleiben würden, wenn man sich kurzfristig von einem Produkt trennt, müssen bei der Bereinigung des Produktportfolios berücksichtigt werden.
Von Artikeln mit hohen Umsatzanteilen kann man sich selbst dann schwerer als von Artikeln mit geringen Umsatzanteilen trennen, wenn sie nur geringe Deckungsbeiträge aufweisen. Dies nicht zuletzt, weil sie für die Wahrnehmung eines Unternehmens am Markt wichtig sein können und sie zudem ein großes Ertragspotenzial bergen, wenn es gelingt, die Deckungsbeiträge zu verbessern.
Unter strategischen Gesichtspunkten ist sicherzustellen, dass sich die Artikel über den gesamten Produktlebenszyklus verteilen: zumindest bei den Deckungsbeitragsstarken Artikeln besser linksschief (mehr Artikel bei den Neuanläufern) als rechtsschief (mehr Artikel bei den Ausläufern).
Aus diesem Grund können wir als Best-Practice-Baustein 4 festhalten: Sechs zentrale Krite-rien entscheiden über den Verbleib eines Artikels im Produktsortiment. Nur eines davon ist der Sortimentszwang.
Jeder, der schon einmal an Diskussionen zur Bereinigung des Produktsortiments eines Lagerfertigers beteiligt war, weiß, wie intensiv vor allem der Vertrieb die Exoten im Produktproduktportfolio verteidigt. An einfachsten bekommt man ihn noch dazu, wenn man die Neueinführung von Produkten an das Aussondern alter Produkte bindet. Ein Vertrieb, der an jedem Fisch, den er angelt, verdient und dabei die Angel nicht selbst bezahlen muss, verhält sich völlig konsequent, wenn er sich gegen die Bereinigung des Produkt-Portfolios stemmt. Aus diesem Grunde werden die Aspekte Neueinführung und Aussonderung immer im Bezug zueinander gesehen.
Ein weiterer wesentlicher Grund für das zögerliche Verhalten des Vertriebs lässt sich im Grundprinzip 5 verorten: Viele Unternehmen treffen bei der Produktbereinigung Entscheidungen, wie im römischen Circus: Daumen hoch oder Daumen runter.
Geht es beim Aussortieren von Produkten nur um ein Entweder-Oder, ist dies nicht nur aus vertrieblicher Sicht schmerzhaft, sondern kann auch der Logistik sehr wehtun. Dies ist immer dann der Fall, wenn bei einem auszusondernden Produkt noch viele Restbestände oder offene Lieferungen von Lieferanten vorhanden sind, auf denen die Supply Chain sitzenbleiben würde.
Die Welt des Produktportfoliomanagements ist jedoch nicht einfach schwarz-weiß zu sehen – vor allem nicht aus dem Blickwinkel der Logistik und des Supply Chain Managements. Zwischen einem hell strahlenden Artikel mit hoher Lieferbereitschaft und einem dunkel verschwindenden, nicht mehr zu liefernden Artikel sind feine Abstufungen möglich. So kann man zuerst einmal darüber nachdenken, den Lieferbereitschaftsgrad eines Artikels zurückzunehmen. Der Artikel ist damit immer noch verfügbar, es wird jedoch häufiger vorkommen, dass Kunden auf die Lieferung des Artikels warten müssen. Nach unserer Erfahrung aus zahlreichen Projekten akzeptieren die Kunden dies, wenn es sich um exotische Artikel handelt, die entweder nur von einem spezifischen Lieferanten angeboten werden oder bei allen einschlägigen Lieferanten schwer zu bekommen sind.
Noch einen Schritt weiter geht die Strategie, Produkte mit einer Lieferzeit zu versehen und nur die erforderlichen Rohmaterialien und Halbfabrikate vorzuhalten. Aus diesen kann dann der benötigte Artikel bei Bedarf hergestellt werden. Auch bei dieser Strategie wird der betroffene Artikel in Teilen ab Lager lieferfähig sein, da er in den meisten Fällen in Losen und nicht in Einzelstücken produziert wird. Die über den Kundenbedarf hinausgehenden Losmengen liegen dann als Fertigware auf Lager. In verschiedenen Fällen haben unsere Simulationen gezeigt, dass damit noch eine Sofortlieferfähigkeit von 50 % erreicht werden kann.
Verzichtet man darauf, Halbfabrikate, spezifische Rohmaterialien oder Zukaufteile bereitzuhalten, um das Endprodukt herstellen zu können, gelangt man zum „Produkt auf Bestellung“, bei dem die Lieferzeiten schon deutlich lang werden können und bei dem darauf geachtet werden muss, dass der Verkaufspreis auch die Gestehungskosten deckt.
Erst der letzte Schritt erst besteht darin, ein Produkt überhaupt nicht mehr zu liefern.
In vielen Fällen ist es gar nicht erforderlich, über die stufenweise Elimination eines Artikels nachzudenken, wenn man zuvor die Aggregation oder Substitution von Artikeln bedacht hat. So kann es deutlich kostengünstiger sein, auf verschiedene geringwertigere Varianten eines Produktes zu Gunsten einer höherwertigen, alle ersetzenden Variante zu verzichten. Die höheren Material- und Gestehungskosten können durch die eingesparten Bestands- und Entsorgungskosten überkompensiert werden. In dieselbe Richtung zielen Sie, wenn Sie mehrere gleichwertige Varianten zu einer Variante zusammenfassen, z. B. indem Sie die Zahl der angebotenen Produktgrößen verringern.
Eine manchmal mutige, aber zuweilen sehr erfolgreiche Strategie kann das Cross-Stocking darstellen. Beim Cross-Stocking teilen sich zwei Wettbewerber ihren Ärger mit CZ- und CZ2-Teilen, indem sich die beiden Parteien das entsprechende Produktportfolio aufteilen und sich wechselseitig beliefern.
Sie sehen, die Bereinigung des Produktportfolios kann eine farbenfrohe Angelegenheit mit spannenden neuen Möglichkeiten sein. Deshalb halten wir als Best-Practice-Baustein Nr. 5 fest: Erfolgreiche Unternehmen pflegen ihr Produktportfolio regelmäßig und konsequent, dafür aber differenziert.
Bei der Pflege des Produktportfolios müssen Sie die richtigen Antworten nicht immer selbst finden, wenn Sie sich auf Grundprinzip 6 einlassen: Kunden reagieren sensibel auf Preisdifferenzierungen.
Jeder, der im Vertrieb zu tun hat, kennt das Schachern um den Preis eines Produktes oder einer Dienstleistung: die Verkäuferin in der Modeboutique genauso wie der Vertriebschef des Großkonzerns. Häufig unabhängig von dem Wert, den ein Produkt oder eine Dienstleistung für einen Kunden hat, versuchen die Kunden und Einkäufer den Preis zu drücken. Die extreme Preissensibilität des Marktes kann man zuweilen geschickt zur Sortimentsbereinigung einsetzen.
So können Sie in einem ersten Schritt bevorzugte Varianten vergünstigen und damit die Nachfrage von ungeliebten Varianten abziehen. Kurzzeitig kann dies Ertragseinbußen bedingen, mittelfristig aber durch Mengeneffekte zu steigen Erträgen führen.
Kunden, die trotz der Preisdifferenzierung bei ihren ursprünglichen Produktvarianten geblieben sind, sind entweder weniger preissensibel oder benötigen aus bestimmten Gründen „ihre“ Stamm-Produktvarianten.
In einem zweiten Schritt sollten Sie nun überlegen, die ungeliebten Produktvarianten zu verteuern. Das wird einen weiteren Teil der Kunden zu den günstigeren Varianten ziehen und damit die dortigen Mengeneffekte verstärken. Einen Teil der Kunden wird dieser Schritt veranlassen, Sie als Lieferanten zu wechseln. Doch der bei seinen angestammten Produktvarianten verbleibende Teil der Kunden, wird Ihnen nicht glücklich, aber gezwungenermaßen die höheren Preise und damit bessere Deckungsbeiträge bezahlen.
Mit je weniger Kunden sie es zu tun haben, desto vorsichtiger müssen Sie mit Schritt 2 dieser Strategie umgehen. Auf diesen Aspekt werden wir später nochmals zurückkommen. Trotzdem setzen viele Unternehmen Best-Practice-Baustein 6 an: Erfolgreiche Unternehmen be-teiligen ihre Kunden an der Sortimentsbereinigung über eine Preisdifferenzierung.
Weitere Informationen zu diesem Themenfeld finden Sie hier:
- Best-Practice-Regeln für das Produkt-Portfoliomanagement, Teil 3
- Best-Practice-Regeln für das Produkt-Portfoliomanagement, Teil 1
- Best-Practice-Regeln für eine leistungsfähige Disposition
- Best-Practice-Regeln für eine leistungsfähige Absatzprognose