Auf der diesjährigen Hannover Messe stand vor allem ein Thema im Mittelpunkt: Industrie 4.0 – und die damit einhergehende Hoffnung auf eine neue industrielle Revolution.
Was bedeutet Industrie 4.0?
Grob gesagt, beschreibt Industrie 4.0 die engere Vernetzung von Industrieprozessen mit modernen IT-Technologien mit dem Ziel der intelligenten Fabrik (Smart Factory). Dadurch soll eine stärkere Individualisierung von Großserien-Produkten möglich werden. Die eingesetzte Automatisierungstechnik soll sich zunehmend selbst überprüfen, konfigurieren und optimieren und den Menschen besser unterstützen.
Und tatsächlich: Software- und hardwaretechnisch sind wir nicht mehr so weit davon entfernt, Produktions- und Beschaffungsprozesse ohne menschliches Zutun „selbstoptimierend, -diagnostizierend und adaptierend“ zu planen und zu steuern. Hardware und Software haben sich, dem mooreschen Gesetz folgend, drastisch weiterentwickelt.
Die Computertechnologie macht heute Dinge möglich, die uns vor 25 Jahren noch als Science Fiction erschienen wären. Diese Fortschritte der IT-Technologie stellen – neben Lean Management und Toyota Production System – den wohl wichtigsten Treiber für die Weiterentwicklung der Planungs- und Steuerungsmethoden dar.
Gesucht: Mensch 4.0
Was aber meist außer Acht gelassen wird: Die Industrie 4.0 fordert allerdings auch den Menschen 4.0, der die Prozesse definiert, die von der Technik dann weitgehend autonom ausgeführt werden. Das Problem dabei: Unsere Mentalität und unsere Denkweisen haben mit den Entwicklungen in der IT und der PPS nicht Schritt gehalten. Die Folge: Die faktischen Fortschritte in Prognose, Fertigungssteuerung oder Disposition fallen in der Praxis nur sehr bescheiden aus – trotz breiterer und differenzierterer technischer Unterstützung.
Der Grund: Fertigungssteuerung – also Disposition, Planung und Prognose – sind statistisch geprägte Prozesse. Und mit diesen tun wir Menschen uns sehr schwer, weshalb die statistische Zusammenhänge in der operativen Praxis zumeist nicht beachtet werden, obwohl sie aus der betriebsorganisatorischen Forschung hinlänglich bekannt sind.
Ein weiterer Grund: konzeptionelle Defizite auf der Managementebene. Meist fehlen eindeutige Vorgaben, wie das angestrebte Unternehmensziel möglichst hoher und nachhaltiger Erträge erreicht werden soll. Statt des Gesamtziels des Unternehmens verfolgt jeder Unternehmensbereich sein eigenes eindimensionales Bereichsziel: ob nun optimale Kapazitätsauslastung, kurze Durchlaufzeiten, Termintreue, Lieferfähigkeit, geringe Bestände oder Prozessautomatisierung. Da sich diese Ziele sogar teilweise widersprechen, lässt sich eine Strategie für eine möglichst wirtschaftliche Wertschöpfungskette daraus nicht ableiten!
Eine solche konsistente Strategievorgabe für die wirtschaftliche Gestaltung der Wertschöpfungskette stellt jedoch die wesentliche Voraussetzung dar, um die neue Fabrik 4.0 planen und steuern zu können. Was fehlt, ist also eine klare logistische Positionierung.
Nur Hype oder Revolution?
Doch gerade am menschlichen Aspekt wird sich vermutlich entscheiden, ob Industrie 4.0 tatsächlich eine neue industrielle Revolution einläuten wird oder nur ein kurzer Hype ist – ähnlich wie Mitte/Ende der 80er Jahre das Thema CIM (Computer Integrated Manufacturing).
1989 habe ich mit Kollegen vom Forschungsinstitut für Rationalisierung an der RWTH Aachen unter dem Titel „CIM zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ umfangreiche Untersuchungen zu den Erfolgsfaktoren einer CIM-Strategie veröffentlicht. Das Ergebnis: Der Erfolg von CIM hängt zu 1/3 vom Faktor Mensch, zu ¼ von der Technik, zu 1/5 von der Organisation, zu 1/6 von der Unternehmenskultur und nur zu 1/20 vom Markt ab. Für Factory 4.0 gilt diese Formel vermutlich noch immer.
Neben der Technik, die mittlerweile reif ist, wird also der Faktor Mensch maßgeblich über den Erfolg der Industrie 4.0 entscheiden. Unternehmen, die diese Revolution umsetzen wollen, benötigen also nicht nur Ingenieure und Informatiker. Auch Supply-Chain-Experten sind gefragt, die die Organisation des Unternehmens den Bedürfnissen der Industrie 4.0 anpassen. Nur durch diese angepassten Strukturen werden die neuen, notwendigen Denkweisen in den Köpfen der Verantwortlichen ankommen. Und dies wird letztlich der Schlüssel für den Erfolg der Industrie 4.0 sein. Der Markt wird es sicherlich gerne annehmen. Ungeachtet dessen bleibt aber auch bei Industrie 3.0 das übergeordnete Optimum das entscheidende Ziel.