Alternative zum Bankkredit

Finanzspritze aus dem eigenen Lager

Von Prof. Dr. Götz-Andreas Kemmner

Wer Liquidität braucht, sollte auch mal in sein Lager schauen. Denn genau hier ist durch eine bessere Disposition einiges an Finanzmitteln freizusetzen. Und jeder Euro, der freigesetzt werden kann, steigert auch die Kreditwürdigkeit. Wer Sicherheiten zu bieten hat, bekommt schließlich (fast) immer Geld.

Man hört oft, dass Banken keine Kredite mehr geben, weil viele Unternehmen die nötigen Sicherheiten nicht bereitstellen können. Schließlich wurden seit Basel II und Basel III sind die Anforderungen an die Eigenkapitalquote der Banken erhöht. Finanzkrise und Stresstests tragen ihr übriges dazu bei, dass die Kreditvergaben in engeren Rahmen vollzogen werden. Das heißt: Je höher ein Kreditrisiko bewertet wird, desto höhere Sicherheiten muss die Bank auf ihrer Seite bereitstellen und desto höher fallen die Zinsen aus. Trotz Niedrigzinsphase sind die Kosten für das Fremdkapital also nicht zu vernachlässigen.

Eine alternative Finanzierungsform ist deshalb für jedes produzierende oder handelnde Unternehmen mit nennbaren Lagerbeständen immer interessant: die Finanzspritze aus dem eigenen Lager. Denn oftmals schlummern in hohen Lagerbeständen enorme Finanzreserven. Und Kapital sollte doch immer so effizient wie möglich eingesetzt werden. Geld in unnötige Bestände zu stecken, ist deshalb die ineffizienteste Form der Kapitalverwendung. In vielen Unternehmen, großen wie kleinen, ist die Bestandsreduktion zudem eine wesentliche und oftmals sträflich unterschätzte Liquiditätsquelle. Diese sollte also nicht nur angezapft werden, wenn kurzfristig Kapital benötigt wird. Ganz nebenbei ist diese Finanzierungsform auch quasi kostenlos.

Die Komplexität nimmt zu

Die Gründe für oft zu hohe Lagerbestände sind schnell hergeleitet. Unternehmen sehen sich heutzutage mit zunehmend komplexen Anforderungen konfrontiert: Artikelspektren wechseln immer schneller, die Variantenzahl steigt, Kunden verlangen gleichzeitig nach immer kürzeren Lieferzeiten. Zugleich werden unsere Liefernetzwerke immer verzweigter und komplexer und damit schwieriger zu durchschauen. Das alles führt oft zu unnötig hohen Beständen. Und diese binden nicht nur Kapital sondern produzieren sogar noch Kosten. Beispielsweise Lagerhaltungskosten, Versicherungen, Finanzierung etc. Hohe Kosten können auch entstehen, weil Unternehmen von ihren Vorräten häufig einen Teil abschreiben müssen, etwa weil Haltbarkeitsdaten überschritten sind oder die Produkte nicht mehr zu den Gestehungskosten verkauft werden können. Man muss das Gekaufte oder Produzierte lagern, gegebenenfalls auch extern und benötigt dafür Infrastruktur. Diese und weitere Kosten müssen zu den Finanzierungskosten addiert werden. Daher kostet Vorratsvermögen nicht etwa nur vier bis acht Prozent Fremdfinanzierung, sondern kalkulatorisch zwischen 19 und 30 Prozent im Jahr – also quasi Wucherzinsen!

Die Lagerbestände müssen runter

Viele Unternehmen wissen gar nicht, dass ihre Supply Chain völlig außer Form ist. Bis dann irgendwann aufgrund der immer weiter steigenden Kosten der Finanzinfarkt droht. Andere wiederum schauen fatalistisch auf ihre Bestandsberge und glauben nicht daran, dass man Bestände nachhaltig senken kann. Die Praxis zeigt jedoch immer wieder: Es geht. Und es lohnt sich. Durch die Reduzierung von Lagerbeständen und Umlaufvermögen können Unternehmen nämlich nicht nur Liquidität schöpfen und Kosten reduzieren, sondern sogar unternehmerisch erfolgreicher werden und den Absatz steigern. Sie fragen sich, wie das bei reduzierten Beständen gehen soll?

Selbstverständlich kann man nicht einfach „auf Teufel komm raus“ die Bestände reduzieren. Die Kunst besteht darin, Bestände so zu reduzieren, dass mit dem reduzierten Vorratsvermögen immer noch die Lieferfähigkeit aufrecht erhalten, ja vielleicht sogar noch ausbauen kann. Dies lässt sich mit geeigneten Ansätzen in praktisch jeder Branche, ob Handel oder Produktion, erreichen, von der Luxusindustrie bis hin zur Palettenfertigung – logistisch betrachtet geht es immer wieder um die gleiche Fragestellung: die Verbesserung der Dispositionsprozesse.

Dispositionsprozesse optimieren

Man kann beispielsweise Schnelldreher in kürzeren Abständen liefern. Das reduziert die Lagerkapazitäten. Selten nachgefragte Produkte wiederum fertigt man bei Bedarf und verbannt sie direkt aus dem Fertigwarenlager. Zudem kann man den logistischen Entkopplungspunkt durch Modularisierung möglichst früh in der Wertschöpfungskette setzen und so Bestände über die gesamte Supply Chain hinweg abbauen. Viele logistische Stellgrößen sind außerdem vom Bauch geplant und per Hand ausgeführt. Ein Palettenplatz im LKW mit Langsamdrehern zu füllen, nur um Frachtkosten zu sparen, treibt in der Summe schnell die Lagerbestände in die Höhe. Es gilt also vieles über die gesamte Supply Chain hinweg zu optimieren.

Methoden- und Tool-Kompetenzen

Methoden- und Tool-Kompetenzen sind hierfür gefragt. Bei einem Lampenhersteller beispielsweise wurde eine erweiterte ABC Analyse durchgeführt. Also eine Klassifizierung des vollständigen Artikelsortiments nach

  • ABC (wirtschaftliche Bedeutung),
  • XYZ (Regelmäßigkeit des Verbrauchs),
  • STU (Anzahl Kunden pro Artikel)sowie
  • ELA (Lebenszyklus).

Diese Klassifizierungsmerkmale sind wichtige Größen für die Entscheidung, welche Planungs- und Dispositionsparameter für welchen Artikel eingestellt werden sollten. Hinzu kam ein Regelwerk, das genau festlegt, welche Artikelklassen wie zu planen und zu disponieren sind. Mit solchen grundlegenden Analysen kann man schnell bestehende Bestände sinken lassen und gleichzeitig die Lieferbereitschaft steigern.

Aber all solche Analysen und daraus abzuleitende Maßnahmen reichen nicht aus, wenn Disponenten nicht auch mit einer passenden Software unterstützt werden, denn eine optimale Disposition ist kein triviales Unterfangen.

Gute Disposition ist eine komplexe Materie

Wie komplex die Disposition ist, kann man schon alleine an der Anzahl der erforderlichen Stammdaten erkennen: Je nach Zuschnitt des Artikels hat man sich um bis zu 130 logistische Parameter zu kümmern. Stellt man sich diese als mathematische Gleichung vor, ist schnell zu verstehen, dass man diese nicht im Kopf rechnen kann. Große Fehler werden aber gemacht, wenn man einzelne Parameter der Einfachheit halber zusammenfasst. Beispielsweise Sicherheitsbestände für die schwankende Nachfrage, Sicherheitsbestände für schwankende Fertigungszeiten und Sicherheitsbestände für schwankende Lieferzeiten der Vorlieferanten in einem gemeinsamen Sicherheitswert abbildet. Kumuliert man sie andererseits einfach kann das nur zu deutlich mehr Bestand führen.

Chefsache

Ganz wichtig ist aber auch der Blick auf das „Big Picture“: Die Geschäftsführung muss hier mitarbeiten. Sie darf die Bestandssenkung nicht nach unten weg delegieren, denn dann wird es schwer, ein Gesamtoptimum zu erzielen, weil jedes Ressort seine Pfründe sichern will oder sogar muss: „Konnte ich mit unschlagbarem Mengenrabatt einkaufen“, „Kunde muss alle Produkte auf Abruf bekommen können“ oder „Konnte Rüstzeiten deutlich minimieren.“ All diese Aussagen sind für sich genommen wichtig und richtig, wenn man nur sein eigenes Ressort betrachtet. Und es sind Aussagen, die die Geschäftsleitung liebt. Für ein Gesamtoptimum ist aber ein Kompromiss aus einzelnen Zielgrößen zu erreichen. Hier sind Aussagen wie diese bisweilen richtiger: „Wird in kleineren Chargen bestellt, die teurer sind.“ „Bekommt die CZ-Artikel nur noch mit deutlich größerem Vorlauf.“ „Wir müssen oft umrüsten und die Maschine hat dadurch einen geringeren Ausstoß.“ Die Supply Chain Optimierung erfordert die Bereitschaft eines jeden Verantwortungsbereiches zu Kompromissen und ist deshalb Chefsache. Hat die Geschäftsleitung nicht genügend Detailwissen zum Thema Supply Chain Optimierung, muss sie entsprechend reagieren: Entweder indem sie entsprechende Experten einstellt oder auf externe Beratung zurückgreift. Und bedenken Sie: Die Zinsen, die man für das Lager bezahlt, sind es wert, eingespart zu werden. Und dies nicht nur, wenn man eine Finanzspritze braucht!

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