Sihl erlangt mit logistischer Simulation deutliche Reduzierung des Net Working Capital

Von Dr. Bernd Reineke und Fabian Ossen

Kreative Bildformate, brillante Farben, ausdrucksstarke Verpackungen legen den Grundstein für das Marketing zahlreicher Unternehmen. Dahinter stecken Lieferanten und Dienstleister, unter anderem Hersteller von speziellen Papieren, Folien und Vliesen. Die Firma Sihl aus Düren steht als starker Partner an der Seite zukunftsorientierter Industrien und schafft innovative Lösungen durch hochwertige Beschichtungen. Mehr als 350 Mitarbeiter tragen in der Sihl Gruppe zum Erfolg ihrer Kunden aus einer Vielzahl von Branchen in fast allen Ländern der Welt bei. Von Automobil über Tourismus, von Verpackung und Etiketten bis Druck und Logistik vertrauen die Kunden den hochwertigen Beschichtungen und technologischem Know-how des Dürener Unternehmens.

Das Wachstum und der technologische Fortschritt bei den Produkten führten Sihl an den Punkt zu analysieren, wie man die Supply Chain Prozesse und den entscheidenden Wett­bewerbs­vorteil „Lieferzeit“ verbessern könne. Auslöser lagen hier einerseits in unter­schiedlichen, länder­spezifischen ERP-Systemen und damit verbundener Reibungsverluste.

Ein weiterer Punkt lag in der Verfügbarkeit von Erzeugnissen einerseits und hohen Beständen an Artikeln andererseits. Und nicht zuletzt an der Kundenzufriedenheit in einem hart umkämpften Markt, in der hohe Lieferbereitschaft und Planbarkeit von Lieferungen an der Tagesordnung ist.

Das Ziel – Transparenz, richtige Hebel und motivierende Quick Wins

„Wir wollten den Weg zur höchstmöglichen Bestandstransparenz finden und die entscheidenden Ansatzpunkte unserer logistischen Herausforderungen zu meistern,“ erinnert sich Supply Chain Manager Fabian Ossen. Sechs konkrete Ziele sollten im Projektergebnis erreicht werden:

  • Zuverlässige Liefertermine für Kunden
  • Lieferstrategien für abgestimmte Lieferzeiten
  • Verschlankung der Wertströme
  • Reduzierung der Variantenvielfalt
  • Überprüfung der Artikelparameter hinsichtlich Disposition und Prognose
  • Senkung des Net-Working-Capital

Zweistufiger Beratungsansatz

Allen war klar, dass für diesen Kurs externe Unterstützung zur Analyse der Prozesse, Moderation und die Ausarbeitung von den Maßnahmen herangezogen werden sollte.  Man erhoffte sich durch Quick-Wins eine interne Motivation, um schneller und innerhalb des gesetzten Budgets weitreichende Optimierungsansätze zu erarbeiten.

Logistische Optimierung mittels Simulation hat die Nase vorn

Die Unternehmensberatung Abels & Kemmner erhielt den Zuschlag zur Unterstützung und Durchführung dieses Vorhabens. Der Ansatz einer Potenzialanalyse unter Zuhilfenahme eines speziellen Simulationssystems überzeugte. Neben der Möglichkeit eines digitalen Zwillings des ERP-Systems war der zweistufige Ansatz von Abels & Kemmner rund 30% günstiger als klassische Beratungsansätze. Zudem erhoffte man sich durch den digitalen Zwilling eine schnelle Datenanalyse mit kurzfristig umsetzbaren Ergebnissen.

Mit der Prozessanalyse und der Datenanalyse teilt sich die Potenzialanalyse in zwei Schwerpunkte auf. In der Prozessanalyse werden alle wesentlichen Prozesse der Supply Chain unter die Lupe genommen. Bei der Datenanalyse werden detaillierte Stamm- und Bewegungsdaten aus den ERP-Systemen gezogen und in dem im Projekt verwendeten Simulationssystem analysiert. In der Regel werden schon in der Prozessaufnahme offensichtliche Potenziale aufgedeckt und direkt mit entsprechenden Maßnahmen angegangen. Die Überprüfung der Bevorratungsstrategien und Klassifizierung der Materialien standen dabei im Vordergrund.

Zügige Ergebnisse und lukrative Quick-Wins

So konnten zu hohe Bestände, schlechte Verfügbarkeiten oder ungeeignete Artikel im Produktportfolio aufgedeckt werden. Mit Unterstützung einer Entkopplungspunktanalyse, bei der die Lagerhaltigkeit auf Basis des Lieferversprechens zum Kunden ermittelt wurde, konnten falsche Bevorratungsstrategien aufgedeckt werden. Das Simulationssystem berechnete dann auf Basis korrigierter Strategien die notwendigen Bestandshöhen und ermittelte daraus wiederum Potenziale zur Bestandssenkung d.h. zu einem geringeren Working Capital.

Quick-Wins trugen zu Beginn der Zusammenarbeit zu einem Return on Invest (ROI) des Beratungsprojektes bei. Typische Beispiele für Quick-Wins waren unabgestimmte Prozesse, besonders in den Schnittstellen zwischen Verantwortungsbereichen oder falsche Systemeinstellungen, wie Sicherheitsbestände oder Losgrößen.

Einbeziehung der Mitarbeiter fördert Akzeptanz

Die Ergebnisse aus der Prozessanalyse und der Datenanalyse wurden in Potenzialworkshops mit dem Projektteam und mit den operativen Kräften diskutiert, verifiziert und gingen tief in die Details von Prozessen und Daten. Anschauliche Fakten lieferten in der Diskussion viele Details, die zunächst in Interviews unerwähnt blieben. Insbesondere persönliche Aufschreibungen oder Zusatzinformationen, die in den ERP-Daten nicht enthalten waren, kamen zutage.

Weiterhin bildeten die Potenzialworkshops eine Plattform, um erste Lösungsansätze zu erörtern und auf Umsetzbarkeit zu prüfen. Die Mitarbeiter direkt im Workshop an der Lösungsfindung zu beteiligen half, eine hohe Akzeptanz der Ergebnisse zu erzielen. Mit ihrem so erlangten Wissen wurden die Teilnehmer wichtige Multiplikatoren und Botschafter der aussichtsreichen Projektideen.

Ergebnis – ein belastbarer Maßnahmenplan

Nach vielen Vorschlägen und Einzelmaßnahmen aus der Analysephase erlangte Sihl einen abgestimmten Maßnahmenplan. Die Einzelmaßnahmen wurden gebündelt und zu Schwerpunktthemen zusammengefasst. Das Projektteam hatte dabei die Rolle, bei der Maßnahmengestaltung und der Potenzialabschätzung zu unterstützen. Bei Sihl sind von den sechs Maßnahmenpaketen drei Handlungsschwerpunkte hervorzuheben:

„Die simulative Analyse unserer globalen Wertschöpfungskette durch A&K zeigte uns die entscheidenden Ansatzpunkte auf, um unsere Lieferbereitschaft zu verbessern und unsere Bestände deutlich zu senken. Dass A&K die Ergebnisse mit uns zusammen auch umsetzte und erreichte, war für uns ein entscheidender Faktor.“

Fabian Ossen, Supply Chain Manager der Sihl GmbH

Maßnahme 1: Management des Produktportfolios

Eine bittere Erkenntnis war, dass ein breites (viele unterschiedlich Produkte) und tiefes (hohe Variantenvielfalt) Produktportfolio die Prozess- und Lagerkosten in die Höhe treibt und die Margen dahinschmelzen lässt. Das bestehende Produktportfolio von Sihl wies die typischen Anzeichen eines ungeregelten Produktentstehungsprozesses auf: während neue Produktideen umgesetzt wurden, versäumte man es, alte bzw. wenig profitable Produkte aus dem Sortiment zu streichen.Die Maßnahmen zum Management des Produktportfolios sollen dies zukünftig verhindern. Dafür wurden so genannte Market-Teams geschaffen, die regelmäßig das Produktportfolio analysieren, Anlauf- und Auslaufphasen bestimmen und Nachfolgeprodukte definieren. Ganz wesentlich für den Erfolg dieser Maßnahme war die Definition eines regelmäßig stattfindenden Prozesses, der vorgab, was wann zu tun ist, welche Entscheidungsgrundlagen vorliegen müssen und wie der Entscheidungs- und Eskalationsprozess abläuft.

Dafür waren sowohl geeignete Methoden und Analysen zu bestimmen, die regelmäßig zur Anwendung kommen sollten, wie auch notwendige Tools zu diskutieren, die die Arbeit unterstützen und vereinfachen sollten.

Maßnahme 2: Aufbau einer strukturierten Lieferstrategie

Zu Beginn dieser Maßnahme wurde kurzfristig eine Kundenbefragung durchgeführt, die folgende Ergebnisse lieferte: 

  • Mehr als die Hälfte der befragten Kunden waren unzufrieden mit dem Lieferservicegrad
  • Die Kunden erwarten kürzere Lieferzeiten bei ausgewählten Produkten 

Im Rahmen dieser Maßnahme wurden die bestehenden Marktversprechen überprüft und eine zukünftige Lieferstrategie von Lieferklassen erarbeitet.  

  • Die Lieferklassen sehen verschiedene Lieferzeiten zu den Kunden vor. So werden wichtige und umsatzstarke Produkte weiterhin kurzfristig ab Lager geliefert.  
  • Seltener nachgefragte Produkte werden in der Wiederbeschaffungszeit nachproduziert. Die Enderzeugnisse und Halbfertigprodukte müssen bei diesen Lieferklassen nicht mehr bevorratet werden. 

Insgesamt ergaben sich 5 verschiedene Lieferklassen. 

  • Lieferklasse A: X Tage 
  • Lieferklasse B: X+3 Tage 
  • Lieferklasse C: X+7 Tage 
  • Lieferklasse D: X+21 Tage 
  • Lieferklasse E: auf Anfrage 

Allein diese Maßnahme barg eine Bestandsreduzierung von über 12% des Gesamtbestandwerts.

Maßnahme 3: Systematisierung und Optimierung der Disposition

Bisher lagen die meisten Entscheidungen bezüglich der Bevorratungsstrategien und den damit verbundenen Dispositionsparametern bei den Disponenten. Schließlich folgerte man aus Maßnahme 2, dass es zukünftig eine Systematik braucht, die die notwendigen Einstellungen der Dispositionsparameter idealerweise vorgibt. Wesentliche Parameter sind beispielsweise die Planungsstrategie, das Prognoseprofil, die gewünschte Lieferbereitschaft und die Sicherheitsbestände sowie Dispositionsmethode und Losgrößenverfahren.  

Zunächst waren wesentlichen Materialklassifizierungen zu ermitteln: 

  • ABC-Klassifizierung für die wirtschaftliche Bedeutung 
  • XYZ- Klassifizierung für den Regelmäßigkeit des Verbrauchs 
  • STU- Klassifizierung für die Anzahl der kaufenden Kunden, etc. 

Weitere Materialeigenschaften können ebenfalls Einfluss auf die Dispositionsparameter nehmen wie beispielsweise Lebenszyklus (Product Life Cycle), Warengruppe, Lieferzeit, Produkthierarchie etc. 

Diese Eigenschaften gehen in ein Dispositionsregelwerk ein, das die Einstellungen der Materialien vornimmt. Auf diese Weise ist für jedes einzelne Material genau vorgegeben, ob eine Make to Stock- oder Make to Order-Strategie angewandt wird und wie die zahlreichen Parameter (s.o.) zu belegen sind. Die Ergebnisse des Regelwerkes wirken sich somit direkt auf die Prognoseeinstellungen aus, die auch die notwendigen Einstellungen für die Sicherheitsbestandsberechnungen beinhalten.  

Mit dem Regelwerk sind schließlich alle Parameter bestimmt, um den Planungslauf (MRP) des ERP-Systems zielgerichtet ablaufen zu lassen und die berechneten Potenziale zu erreichen.  

Die Grundlage der Systematisierung und Optimierung der Disposition ist in der folgenden Abbildung dargestellt:

Optimierungsparameter bei Sihl - Abels & Kemmner

Erfolgreiche Zusammenarbeit setzt sich fort

Ein wesentlicher Vorteil des Regelwerks ist die Möglichkeit der Automatisierung. Dies unterstützt den Disponenten ganz besonders, da er nun die Veränderungen in den Materialeigenschaften selbst erkennen und die Einstellungen nicht manuell vornehmen muss.  

Als logische Konsequenz ergab sich daraus ein Teilprojekt mit Abels & Kemmner, welches die IT-gestützte Umsetzung des Regelwerks beinhaltete. Dies mündete in der Empfehlung zur Auswahl eines geeigneten, ergänzenden Softwaresystems, da eine Programmierung im ERP-Umfeld als zu aufwendig erkannt worden war. 

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Dr. Bernd Reineke