Wenn ich nicht mehr weiterweiß, mache ich eine KI sogleich? Die Erwartungen an KI bei der Absatzprognose sind häufig überzogen
Die naive Meinung vieler Führungskräfte und Sachbearbeiter ist, dass man mit Künstlicher Intelligenz (KI) endlich zu genauen Prognosen kommen kann. Statt Vergangenheitsdaten anzuschauen, setzt man besser auf KI. Die Realität sieht aber deutlich anders aus.
In Wirklichkeit lernt auch ein KI-System aus der Vergangenheit. Die KI kann möglicherweise in den vorhandenen historischen Zeitreihen Gesetzmäßigkeiten jenseits Trends und Saisonalitäten erkennen, die klassische statistische Prognoseverfahren nicht erkennen. Allerdings ist das ARIMA-Verfahren hier auch bereits sehr gut. Wie jeder statistische Ansatz zeigt auch das ARIMA-Verfahren nicht auf, welche konkreten Faktoren die Prognose beeinflussen. Das kann eine KI aber auch nicht leisten, wenn man ihr lediglich historische Zeitreihen aus Kundenaufträgen oder Lagerabgangsdaten und keine gesonderten Informationen über Einflussgrößen bereitstellt, die auf das historische Nachfrageverhalten eingewirkt haben.
Wenn man (Voraussetzung 1) Vermutungen hat, welche externen Faktoren auf die Marktnachfrage einwirken könnten, kann man einen Schritt weitergehen und kann diese bei KI-gestützten Prognosen sehr effizient und einfach berücksichtigen; vor allem, wenn es mehrere Faktoren sind, die zusammenwirken. Allerdings findet die KI mögliche Einflussfaktoren auf das Nachfrageverhalten auch nicht selbständig. Allenfalls kann man mit Large Language Models wie GPT („ChatGPT“) Vermutungen anstellen, welche Einflussfaktoren wirken könnten, wenn man selbst keine Vermutungen hat.
Um die Auswirkungen der vermuteten Einflussfaktoren auf die Marktnachfrage nach einem Produkt oder einer Produktgruppe quantitativ beurteilen und Aussagen über das zukünftige Nachfrageverhalten treffen zu können, benötigt auch die KI entsprechende historische Zahlenreihen (Voraussetzung 2) zu diesen Faktoren, mit denen man die KI trainieren kann.
Dass solche historischen Daten vorliegen, reicht jedoch nicht aus. Es muss eine hinreichende Anzahl an Daten vorliegen (Voraussetzung 3), um die KI trainieren zu können. Wie viele Daten erforderlich sind, kommt, wie oft, auch hier auf den Einzelfall an. Um es aber einmal pragmatisch und unwissenschaftlich zu formulieren: 100 Datensätze sind eher zu wenig, 1000 wären schon besser, einige zigtausend am besten. So viele Daten sind in vielen Fällen aber überhaupt nicht zu finden.
Weiterhin müssen Daten zu den Einflussfaktoren auch für die Zukunft vorliegen (Voraussetzung 4a). Nur wenn man weiß, wie sich die Einflussfaktoren zukünftig verändern werden, kann man die Auswirkungen dieser Veränderung auf die Marktnachfrage ermitteln. Wo das nicht der Fall ist, besteht noch die Chance (Voraussetzung 4b), dass die gegenwärtigen und historischen Daten der Einflussgrößen in sich bereits eine Aussage über die zukünftige Nachfrageentwicklung enthalten. Das klingt kompliziert, ist aber ganz einfach: Würde die KI beispielsweise aus den Trainingsdaten erkennen, dass eine Steigerung eines Konjunkturfaktors, z.B. des IFO-Index oder des Einkäuferindex mit sechs Monaten Verzug zu einer Nachfragesteigerung führt, reicht die Kenntnis des aktuellen Wertes dieser Indices, um daraus eine Aussage über die zukünftige Nachfrage in sechs Monaten ableiten zu können. In der Tat zeigen einige Analysen von uns aus Kundenprojekten, dass bestimmten Konstellationen mehrerer Konjunkturfaktoren zusammen bei bestimmten Warengruppen bestimmter Kunden eine Aussage über die Nachfrageentwicklung dieser Warengruppen für die nächsten drei bis sechs Monate ermöglichen.
Nehmen wir als Anwendungsbeispiel zur Verdeutlichung des Sachverhalts den Einfluss von Verkaufsaktionen von Wettbewerbern auf die Nachfrage nach eigenen Produkten. Bei Standardprodukten, die von verschiedenen Unternehmen angeboten werden und die sich wechselseitig ersetzen können, ist dies oft eine wesentliche Einflussgröße auf die Marktnachfrage nach dem eigenen Artikel. Informationen über Verkaufsaktionen von Wettbewerbern zusammenzutragen kann sehr schwierig, wenn nicht unmöglich sein. Zumindest wäre eine Kenntnis über Aktionstermine und Verkaufspreise, idealerweise auch über die Absatzmengen erforderlich.
Aus fünf Ereignissen (Aktionen) lässt sich kaum Belastbares ermitteln. Man muss Kenntnis von ausreichend vielen Ereignissen haben. Je schwächer die Auswirkungen der Wettbewerberaktionen auf die Nachfrage nach den eigenen Produkten ist, desto mehr Ereignisse sind notwendig, um Aussagen mit einiger Sicherheit zu treffen. Wenn ausreichend Daten verfügbar sind und die KI mit den vorhandenen Daten einen Einfluss auf die Marktnachfrage der eigenen Produkte erkennen kann, ist das schon ein großer Schritt, nutzt aber nichts, wenn man die zukünftigen Aktionen des Wettbewerbs nicht im Voraus kennt. Wenn das Ereignis eingetreten ist, ist es meist zu spät und die Prognose nutzt nichts mehr. Wenn Wettbewerberaktionen die zukünftige Nachfrage nach den eigenen Produkten beeinflussen, kann eine aktuell stattfindende Aktion eines Wettbewerbers möglicherweise zu einem vorübergehenden Nachfrageeinbruch bei den eigenen Produkten führen. Allzu weit in die Zukunft dürfte sich die Erkenntnis aber nicht auswirken.
Insgesamt lässt sich sagen, dass die Erwartungen an KI bezüglich der Verbesserung von Prognosen zumindest aktuell noch übertrieben sind. Obwohl KI in der Lage ist, aus historischen Daten zu lernen und möglicherweise Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, die klassische statistische Prognoseverfahren nicht erkennen, gibt es immer noch viele Herausforderungen und Einschränkungen, die überwunden werden müssen. Diese liegen heute nicht mehr grundsätzlich in den Möglichkeiten der KI, sondern sehr oft in den fehlenden Daten. Fehlende Daten, die für denjenigen, der darüber verfügt, viel Geld wert sind und die deshalb immer seltener großzügig und kostenlos zum Training von KI-Systemen zur Verfügung gestellt werden…