von Felicitas Heid-Davignon1 und Martin Jürgens2

Der Mieder- und Bademodenspezialist Anita Dr. Helbig GmbH ist für perfekte Passform seiner Produkte bekannt. An einer perfekten logistischen Passform hat das erfolgreiche Unternehmen zusammen mit Abels & Kemmner gearbeitet. Eine sehr konservativ angelegte Überbestands-Analyse ergab bereits ein Bestandsreduzierungspotenzial in Höhe von 19%. Das tatsächliche Einsparpotenzial betrug nach gezielten Bestands-Simulationen 26,3%. Das Beratungsprojekt amortisierte sich bei einem Lagerhaltungskostensatz von 15% somit in nur vier Monaten.

Die Anita Dr. Helbig GmbH fertigt und vertreibt Mieder- und Bademoden in großen Cups und Größen und für die Zielgruppen werdende und stillende Mütter sowie brustoperierte Frauen. Aus verschiedenen Gründen ist in den letzten Jahren der Bestand an Fertigwaren angewachsen. Vor dem Hintergrund der akuten Situation wurde Abels & Kemmner beauftragt, eine systematische und dauerhafte Reduzierung von Bestandskosten durch eine optimale Disposition zu erreichen. Dabei sollte einerseits die vom Markt geforderte hohe Lieferbereitschaft gewährleistet und andererseits die aus der Bestandsreduzierung resultierenden Mittel nicht durch einen erhöhten Ressourcenverbrauch an anderer Stelle in der Wertschöpfungskette wieder aufgefressen werden. Es galt also, die “richtigen Stellschrauben” zu identifizieren und diese dann in die “richtige Richtung” auf den “optimalen Punkt” zu drehen.

Die Ausgangssituation

Zu den Gründen für den Anstieg des Fertigwarenbestandes bei Anita zählen u.a.:

  • Die Zahl der Neuheiten in Modell- und/oder Farbgestaltung nahm zu, so dass sich die Anzahl der zu lagernden Positionen insgesamt erhöht hat, da sich das Rad von Neuheiten und Altartikeln immer schneller dreht.
  • Teilweise wurde die Bestandsreichweite beim Kernsortiment gezielt erhöht, teilweise erforderte die frühere Termin-Unsicherheit der Produktion höhere Sicherheitsbestände.
  • Hinzu kommen die bei den Neuheiten hohen ersten Dispomengen, die zum Auslieferungstermin komplett am Lager sind.

Einkauf, Produktion und Logistik hatten bereits eine Reihe von Maßnahmen angestoßen, um die Situation zu verbessern. Die Termin- und Liefermengenzuverlässigkeit der Produktion war in den Vormonaten deutlich gestiegen, wodurch die Wiederbeschaffungszeit des Fertigwarenlagers für eine Reihe von Positionen entsprechend der verringerten Durchlaufzeit durch Einkauf und Produktion gesenkt werden konnte. Viele dezentrale Fertigwarenläger wurden zwischenzeitlich in einem zentralen Versandlager in Kufstein zusammengefasst, so dass in den verschiedenen europäischen Vertriebsgesellschaften jeweils nur noch kleinere Läger mit Zugriffsartikeln und ein Lager von der amerikanischen Vertriebsgesellschaft geführt wird. Dennoch erwartete man weiteres Optimierungspotenzial, was sich in der projektinitiierenden Overstocking-Analyse bestätigte.

Overstocking-Analyse

Die zweitägige initiale Überbestands-Analyse im Bereich der Produktgruppe Maternity, (Mieder, Bademoden und Accessoires für werdende und stillende Mütter) ergab ein sehr konservativ ermitteltes Bestandsreduzierungspotenzial bei gleichem Lieferbereitschaftsgrad bei den durch die Disposition beeinflussbaren Artikeln in Höhe von 19%. Das tatsächliche Einsparpotenzial, das mit detaillierten Bestands- und Lieferbereitschafts-Simulationen ermittelt wurde, betrug in dieser Produktgruppe 43,7% bei einem durchschnittlich erreichten Lieferbereitschaftsgrad von 96%.

Artikelklassifizierung

Der erste wichtige Schritt, um die richtigen Ansätze zur Optimierung der Bestände und der Lieferbereitschaft zu erkennen, besteht in der Strukturierung des Artikelsortiments nach Umsatzanteilen (“ABC”) und nach Prognostizierbarkeit der Bedarfe (“XYZ”) und in der Identifikation von Trends- und Saisonalitäten.

Iterative Simulation

Eine iterative Simulation alternativer Prognoseverfahren für Grundbedarfs- und Sicherheitsbestand zeigte für jede Artikelklasse den Einfluss der einzelnen Eingangsparameter bzw. “Stellschrauben”:

  • Prognoseverfahren
  • Lieferbereitschaftsgrad
  • Losgröße
  • Eindeckzeit
  • Wiederbeschaffungszeit

Einfluss des Prognoseverfahrens

Da bei Anita bisher kein Dispositionsoptimierungstool wie beispielsweise DISKOVER im Einsatz war, war es wichtig zu entscheiden, wie groß der Einfluss des “richtigen” Verfahrenswahl auf die Bestände ist. Wenn dieser Einfluss eine entsprechende Größenordnung erreicht, amortisiert sich ein Dispositionstool wie DISKOVER sehr schnell.

Die folgende Grafik zeigt für die AX-Artikel einer Produktgruppe, wie oft welche der neun simulierten Kombinationen aus Prognoseverfahren und Sicherheitsbestandsverfahren die optimale Kombination darstellt. Es zeigt sich, dass in dieser Artikelgruppe die Verfahrenskombination, welche am häufigsten als die optimale ermittelt wurde, bei nur 27% der Artikel die richtige gewesen ist und je nach Artikel andere Verfahrenskombinationen gewählt werden müssen!

Optimale Verteilung der Verfahrenskombinationen der AX-Artikel bei Anita
Optimale Verteilung der Verfahrenskombinationen der AX-Artikel bei Anita

Viele ERP- oder Warenwirtschaftssysteme verfügen gar nicht über unterschiedliche Verfahren zur Absatzprognose. Die in einigen ERP-Systemen als Standardverfahren zur Prognose favorisierte Kombination des Grundbedarfsverfahrens der “exponentiellen Glättung 1. Ordnung” mit dem Sicherheitsbestandsverfahren des “gleitenden MAD” wäre in diesem Fall bei lediglich 26% der Artikel das optimale Verfahren. Das Ergebnis wären viel zu hohe Lagerbestände bei ungenügender Lieferbereitschaft. Rechnet man die komplette Artikelgruppe nur mit einer Verfahrenskombination ergeben sich je nach ausgewählter Verfahrenskombination mehr als doppelt so hohe Durchschnittsbestände

Rechnet man die komplette Artikelgruppe nur mit einer Verfahrenskombination ergeben sich je nach ausgewählter Verfahrenskombination mehr als doppelt so hohe Durchschnittsbestände als bei der artikelspezifischen Optimierung der Verfahrenskombinationen.

Einfluss des Lieferbereitschaftsgrades

Der vom Unternehmen vorzugebende Soll-Lieferbereitschaftsgrad – letztlich durch die Ansprüche der Kunden festgelegt – bestimmt die Höhe der Bestände wesentlich mit. So wurde beispielsweise ermittelt, wie viel Bestand ein Soll-Lieferbereitschaftsgrad von 99% für die Prothesen in der Produktgruppe Anita Care kostet und ob dieser auch erreicht werden kann. Im Gegenzug könnten die erhöhten Kosten für die Lieferbereitschaftsgraderhöhung durch die Senkung des Soll-Lieferbereitschaftsgrades auf 90% für die Artikel mit einem sporadischen Z oder Z2-Verbrauchsverhalten mehrfach wieder hereingeholt werden. Je nach Konstellation kann daraus mittelfristig sogar ein Umsatzwachstum resultieren.

Einfluss der Losgröße

Der in vielen Fällen oft hohe Einfluss der Losgröße auf die Bestandssituation bestätigte sich durch die Simulationsrechnungen hier nicht. Das heißt, dass hier mit einer Losgrößenreduzierung an den falschen Stellschrauben gedreht worden wäre. Hiermit konnte eine immer wieder geführte Diskussion über Sinn und Nutzen einer Losgrößenreduzierung in der Produktion beendet werden.

Einfluss der Eindeckzeit

Die Produktgruppe Anita Maternity weist einen hohen Anteil an AX-Artikeln auf. Hier lohnte sich die Anstrengung, eine Verkürzung der Eindeckzeit anzugehen. Die Eindeckzeit gibt die Zeitdauer an, die der disponierte Lagerbestand nach Eintreffen der Ware aus der Produktion noch ausreichen soll, bis eine erneute Warenlieferung eintrifft. Eine somit häufigere Disposition der Artikel bedeutet natürlich einen höheren Aufwand für die Disponenten und die Produktion erhält eine höhere Anzahl an Produktionsaufträgen. Da die Simulation aber zeigte, dass diese Verkürzung der Eindeckzeit sich nur bei AX-Artikeln mit regelmäßigem, fast konstantem Verbrauchsverhalten lohnt, wurde eine Simulation der Bestellvorschläge im Zeitverlauf für diese Artikelklasse generiert. Hiermit konnte nachgewiesen werden, dass die aus der geringeren Eindeckzeit resultierenden geringeren Auftragslosgrößen bei den AX-Artikeln für die Produktion keine Probleme bereiten werden. Das bedeutete allein in dieser Produktgruppe bei einer Senkung der Eindeckzeit um 10 Tage ein um ca. 90.000 € reduzierter Durchschnittsbestand bei den AX-Artikeln.

Simulierte tägliche Bestellmengen in der Produktion

Einfluss der Wiederbeschaffungszeit
Einfluss der Wiederbeschaffungszeit

Die Wiederbeschaffungszeit bzw. die Durchlaufzeit (von Einkauf und Produktion) ist eine wichtige Größe, die neben der Losgröße darüber entscheidet, ob ein Artikel rein auftragsbezogen gefertigt werden kann oder nicht. Die Durchlaufzeit ist in der Miederfertigung durch die schwierige Farbabstimmung bei vielen unterschiedlichen Materialien, den hohen Anteil von Handarbeit bei Verarbeitung von Spitze und den speziellen Mold-Prozess relativ hoch. In der Textil- und Bekleidungsbranche wird die Wiederbeschaffungszeit und Durchlaufzeit daher in Wochen und nicht in Tagen angegeben. Durch eine auftragsneutrale Vordisposition kann hier eine verkürzte Wiederbeschaffungszeit erreicht werden. Die sich in DISKOVER sehr fein in Vorlaufzeit, Lieferzeit, Sicherheitszeit, Wareneingangsbearbeitungszeit gliedernde Wiederbeschaffungszeit wurde in der Simulation stufenweise verkürzt. Während bei den AX-Artikeln einer Produktgruppe die Wiederbeschaffungszeit auf 50% hätte reduziert werden müssen, um erkennbare Bestandssenkungseffekte zu erzielen, reagierten die AX-Artikel einer anderen Produktgruppe sensibler auf eine Verkürzung der Wiederbeschaffungszeit. Die Simulation zeigte aber auch, dass eine Verringerung der Wiederbeschaffungszeit in dieser Produktgruppe um mehr als 30% keine nennenswerte Auswirkung auf den Bestand mehr hat.

Simulierter Durchschnittsbestand einer Produktgruppe in Abhängigkeit von der WBZ
Simulierter Durchschnittsbestand einer Produktgruppe in Abhängigkeit von der WBZ

Fazit

Die Lieferbereitschaftsgrade sind in den verschiedenen Produktgruppen auf 94 bzw. 99% steigerbar. Einher geht damit eine Bestandssenkung bei den dispositiv beeinflussbaren Artikeln von durchschnittlich 26,3% über die 4 Produktgruppen. Bei gleichbleibendem Ist-Lieferbereitschaftsgrad läge das Bestandsreduzierungspotenzial sogar bei 49,8%. Die Amortisationszeit des sich für die 4 Produktgruppen über ca. 4 Monate erstreckenden Beratungsprojektes lag bei einem mit 15% angesetzten Lagerhaltungskostensatz ebenfalls bei lediglich 4 Monaten.

Die Kundinnen erwarten von Anita “UniqueBodyWear” mit einer perfekten Passform. Eine perfekte logistische Passform hat das Unternehmen in Zusammenarbeit mit Abels & Kemmner nun für sich geschneidert.

Über Anita

Als Spezialanbieter für Miederwaren, Bademoden, z.B. auch für werdende und stillende Mütter oder spezielle medizinische Produkte für die Nachsorge bei Brustoperationen bildet Anita ein kompetentes, international tätiges Netzwerk aus 20 Einzelgesellschaften mit insgesamt ca. 1.100 Mitarbeitern und einem jährlichen Umsatz von ca. 70 Millionen Euro. Der Umsatzanteil außerhalb der Kernmärkte Deutschland und Österreich beträgt bereits deutlich mehr als 50 % mit stark steigender Tendenz. Dabei erfolgt der Vertrieb bevorzugt über eigene Tochterunternehmen, teilweise über exklusive Importeure. Im globalen Markt genießt die Unternehmensgruppe einen exzellenten Ruf als Nischenanbieter für hochqualitative Spezialmieder und darf sich zu den unternehmerisch erfolgreichen Unternehmen der Bekleidungsbranche zählen.

Die eigenen Produktionsstandorte befinden sich in Deutschland, Österreich, Portugal, der Tschechischen Republik und Fernost. Neben der Musterfertigung erfolgt am Standort Brannenburg praktisch die gesamte Vorfertigung. Die verarbeiteten hochelastischen Materialien stellen besondere Anforderungen an den Zuschnitt der Teile, um hohe Passform zu erreichen. Der Zuschnitt stellt somit eine Kernkompetenz im Rahmen der Fertigung dar. Dies und der technische Aufwand für den Zuschnitt auf einer Cutterstraße bedingen die Konzentration dieses Arbeitschrittes größtenteils auf den Standort Brannenburg.

Das Unternehmen vertreibt ein breites Spektrum an Artikeln, welches sich noch durch ein breites Größenspektrum verstärkt, das bedient wird und für welches das Unternehmen im Markt bekannt ist. Im Mieder-Bereich werden vier Sortimente vertrieben, die sich in ihren Zielgruppen, ihrer Nachfragestruktur, ihren Deckungsbeiträgen und in der Dynamik modischer Veränderungen unterscheiden (Care; Maternity; Classics; Rosa Faia). Hinzu kommen Badekollektionen für dieselben Zielgruppen, die auf Vororder gefertigt werden.


1 Felicitas Heid-Davignon ist Leiterin der Logistik bei der Anita Dr. Helbig GmbH in Brannenburg.

2 Martin Jürgens ist Seniorconsultant bei Abels & Kemmner

Picture of Prof. Dr. Andreas Kemmner

Prof. Dr. Andreas Kemmner