Kurze Frage: Kennen Sie das?
Ihre Produktion erhält einen Fertigungsauftrag mit einer Zeichnung für ein bestimmtes Teil. Der Werker, der das Teil herstellen soll, schaut sich die Zeichnung an. Da er einige Durchmesser und Radien für ungeeignet hält und ihm ein wichtiges Werkzeug fehlt, verändert er die Werkstückkontur einfach so, wie er es für besser und machbar hält.
Bei der nächsten Fertigung des gleichen Teils, einige Zeit später, legt derselbe Werker wieder Hand an. Dieses Mal hat er jedoch andere Vorstellungen vom korrekten Aussehen des Teils und stellt eine zweite Variante her.
Das kennen Sie nicht? Gut so! Denn dieses Szenario wäre eine Katastrophe.
Dafür kennen Sie sehr wahrscheinlich das: Ein Mitarbeiter der Disposition oder Fertigungssteuerung erhält über sein ERP-System Mengen und Bedarfe für verschiedene Teile angezeigt. Da er die Losgröße für ungeeignet und den Fertigstellungstermin für falsch hält, ändert er die Systemvorschläge hinsichtlich Menge und Termin ab. Für spätere, erneute Bedarfe derselben Teile ändert er Mengen und Terminvorschläge wieder ab – jedoch anders als beim vorherigen Mal.
Das entspricht dem weithin üblichen Tagesgeschäft von Disposition und Fertigungssteuerung – und ist ebenfalls eine echte Katastrophe!
In der Produktion von Teilen arbeiten wir ganz selbstverständlich daran, die Prozessstabilität sicherzustellen: Die Teile müssen immer wieder – mit geringen Toleranzen – identisch gefertigt werden. Warum akzeptieren wir aber genauso selbstverständlich im Dispositionsablauf, dass an den Dispo-Vorschlägen der ERP-Systeme „nach Bauchgefühl“ gebastelt wird? Spielt Prozessstabilität hier keine Rolle? Von den Beträgen, die hier in „totem“ Kapital gebunden werden ganz zu schweigen.
Das kann doch nicht die richtige Strategie sein! Der klügere Weg eröffnet sich vielmehr über die folgenden zwei Schritte:
1. Weniger auf den Bauch hören
Zunächst müssten wir dafür sorgen, dass in Dispositionsentscheidungen weniger „Bauchgefühl“ des einzelnen Disponenten einfließt. Denn wie wir aus zahlreichen Analysen wissen, ist das Bauchgefühl der Disponenten einer der größten Bestandstreiber.
Hier zeigt sich ein gefährlicher Seiteneffekt sogenannter Dispositions-Cockpits, wie sie gegenwärtig en vogue sind: Die vermeintliche Visualisierung der Zusammenhänge führt dazu, dass die Anwender mehr als zuvor an den Dispositionsvorschlägen des ERP-Systems ändern. Die Dispositions-Cockpits wirken somit als Bauchgefühls- und Überbestandsverstärker. Eine von uns im letzten Jahr im Rahmen eines Projektes durchgeführte Umfrage bei Anwendern solcher Dispo-Cockpits für unterschiedliche ERP-Systeme hat gezeigt, dass Zweidrittel der Unternehmen mit ihren Dispo-Cockpits unzufrieden sind, da die Ergebnisse, die sie sich davon versprachen, nicht eingetreten sind.
Bei den Dispositionsentscheidungen sollten wir also weniger auf unseren Bauch hören und uns stattdessen mehr auf belastbare Zahlen verlassen.
2. ERP-System tunen
Um diese zu erhalten arbeiten wir im zweiten Schritt an der Parametrierung des ERP-Systems, damit es „bessere“ Vorschläge erarbeitet, die dann auch so umgesetzt werden können.
Damit die ERP-Systeme „bessere“ Dispositionsvorschläge ausspucken, versuchen viele Unternehmen, die Systeme durch eine artikelspezifische Optimierung der Dispositionsparameter zu „tunen“. Doch wie beim PKW ist Tuning nicht gleich Tuning: Der eine stimmt Motor und Fahrgestell differenziert neu ab und fährt in jedem Rennen vorne mit, der andere bastelt etwas an der Zündung und wird damit zwar besser, bleibt aber weit hinter seinen Möglichkeiten. Der direkte Vergleich der beiden Wagen im Autorennen macht für alle sofort deutlich, wer tatsächlich erfolgreich getunt hat. Viele Unternehmen hingegen merken gar nicht, wie schlecht Ihre Dispositionsergebnisse sind, da sie nur den Vergleich zu der vorher noch schlechteren eigenen Performance kennen.
Der direkte Vergleich der eigenen Dispositionsleistung mit anderen Unternehmen, der ihnen die verpassten Möglichkeiten aufzeigt, ist praktisch unmöglich. Die Differenz zwischen guter und schlechter Dispositionsparameteroptimierung beträgt aber schon im Mittelstand schnell einige hunderttausend Euro pro Jahr! Was sagt Ihr Bauchgefühl dazu?