Industrie 4.0: Knackpunkt Mensch

Wieder einmal gibt es ein neues Schlagwort, das nicht weniger als eine neue industrielle Revolution verspricht: Industrie 4.0. Viele Begriffe und Ideen rund um Industrie 4.0 gleichen dabei frappierend denen, die in Zusammenhang mit CIM (Computer Integrated Manufacturing) Mitte/ Ende der 80er Jahre verwendet wurden. Gegenüber damals sind wir heute technologisch deutlich weiter; ganz besonders gilt dies in Sachen Hardware- und Softwaretechnologien.Diese Fortschritte der IT-Technologie stellen – neben Lean Management und Toyota Production System – den wohl wichtigsten Treiber für die Weiterentwicklung der Planungs- und Steuerungsmethoden dar. Hardware und Software haben sich, dem Mooreschen Gesetz folgend, drastisch weiterentwickelt. Die Computertechnologie macht heute Dinge möglich, die uns vor 25 Jahren noch als Science Fiction erschienen wären. Ein 4GB-Hauptspeicher z. B., wie ihn jeder moderne Laptop aufweist, würde, gebaut in der High-End Magnetkernspeichertechnologie von 1978, den Raum von 9,5 LKW-Zügen à 32 Europaletten einnehmen.
Software- und hardwaretechnisch sind wir nicht mehr so weit davon entfernt, Produktions- und Beschaffungsprozesse ohne menschliches Zutun „selbstoptimierend, -diagnostizierend und adaptierend” zu planen und zu steuern.

Die Industrie 4.0 fordert allerdings auch den Menschen 4.0.; unsere Mentalität und unsere Denkweisen haben jedoch mit den Entwicklungen in der IT und der PPS nicht Schritt gehalten.
Woran liegt es, dass die faktischen Fortschritte in Prognose, Fertigungssteuerung oder Disposition trotz breiterer und differenzierterer technischer Unterstützungsmöglichkeiten in der Praxis nur sehr bescheiden ausgefallen sind?

Fertigungssteuerung wie Disposition, Planung und Prognose sind statistisch geprägte Prozesse, mit denen wir Menschen uns sehr schwer tun. Aus diesem Grunde werden statistische Zusammenhänge, die wir aus der betriebsorganisatorischen Forschung schon seit Jahren kennen, in der operativen Praxis zumeist nicht beachtet.
Hinzu kommen konzeptionelle Defizite auf der Managementebene: Es fehlen klare, konsistente Vorgaben, wie das angestrebte Unternehmensziel möglichst hoher und nachhaltiger Erträge erreicht werden kann. Heute ist es üblich, das Gesamtziel eines Unternehmens in eindimensionale, sich gegenseitig widersprechende Bereichsziele zu übersetzen. Doch daraus lässt sich keine Strategie für eine möglichst wirtschaftliche Wertschöpfungskette ableiten!

Eine klare logistische Positionierung fehlt, solange jeder Unternehmensbereich ein anderes, „privates” Optimum der Wertschöpfungskette anstreben muss, um seine Zielvorgaben zu erfüllen: Der eine Bereich wird für Kapazitätsauslastung belohnt, der nächste für kurze Durchlaufzeiten, ein Dritter für Termintreue, andere für Lieferfähigkeit, geringe Bestände oder Prozessautomatisierung.Eine konsistente Strategievorgabe für die wirtschaftliche Gestaltung der Wertschöpfungskette stellt jedoch die wesentliche Voraussetzung dar, um die neue Fabrik 4.0 planen und steuern zu können.

1989 habe ich mit Kollegen vom Forschungsinstitut für Rationalisierung (FIR) an der RWTH Aachen unter dem Titel „CIM zwischen Anspruch und Wirklichkeit” umfangreiche Untersuchungen zu den Erfolgsfaktoren einer CIM-Strategie veröffentlicht. Wir kamen zu dem Schluss, dass der Erfolg von CIM zu 1/3 vom Faktor Mensch, zu 1/4 von der Technik, zu 1/5 von der Organisation, zu 1/6 von der Unternehmenskultur und zu 1/20 vom Mark abhängt. Für Factory 4.0 gilt diese Formel vermutlich noch immer.
Die CIM-Visionen scheiterten vor einem Vierteljahrhundert bereits technisch, noch ehe sie sich in der praktischen Anwendung bewähren mussten. Der Erfolg der Fabrik 4.0 wird von der Fähigkeit der Manager und Mitarbeiter abhängen, sich mental und konzeptionell dem Wandel zu öffnen. Wirtschaftspsychologen sind für eine funktionierende Fabrik 4.0-Strategie mindestens genauso erforderlich, wie Ingenieure und Informatiker.

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Prof. Dr. Andreas Kemmner