Artikel- und Lagersortimentierung

von A. Klüttgen1

Die Tatsache, dass der Verkäufermarkt sich zu einem Käufermarkt wandelt, ist nicht neu. Der Geschwindigkeit jedoch, mit der sich dieser Wandlungsprozess vollzieht, scheinen viele Unternehmen nicht gewachsen zu sein. Der Kunde fordert das “Jetzt-sofort-Geschäft”. Eine umfassende Artikelauswahl, Qualität und wettbewerbsfähige Preise werden als selbstverständlich vorausgesetzt. Sie sind unverzichtbare Artikeleigenschaften im Gefolge der Kernforderung des Käufermarktes, nämlich der uneingeschränkten Lieferbereitschaft.

Der Aufbau der Komplexität

In Ermangelung eines geeigneten Planungsinstrumentariums und nicht selten auch des erforderlichen Know-Hows werden als Reaktion auf die gestiegenen Anforderungen des Marktes komplexe Artikel- und Lagersortimente aufgebaut. Das Ziel Kundenbindung durch große Auswahl führt zu Sortimenten mit großer Breite. Zusätzlich wird die Tiefe des Sortiments über eine Vielzahl angebotener Varianten einzelner Produkte ausgebaut. Diese Komplexität führt überall, wo sie unter Deckungsbeitragskalkül oder marketingtechnisch nicht erforderlich ist, zu einer empfindlichen und dauerhaften Beeinträchtigung der Ertragslage. Ineffizienzen auf allen Stufen der Supply-Chain (Beschaffung, Produktion, Lagerhaltung, Vertrieb, After Sales Service) sind die Folge. Dies führt unvermittelt zu der Forderung nach Komplexitätsreduzierung. In diesem Umfeld der Verunsicherung geistert – jedem bekannt und doch nicht offen diskutiert – der Begriff der Angstbestände umher!

Der dreistufige Entscheidungsprozess

Um der Ertragsfalle durch Sortimentskomplexität zu entgehen, gilt es, im Rahmen eines iterativen Entscheidungsprozesses (vgl. Abbildung 1) das Artikel- und das Lagersortiment zu straffen bzw. zu gestalten:

  • Wie setzt sich das anzubietende Artikelsortiment zusammen?
  • Welche Artikel dieses Sortiments sollen gelagert werden und welche nicht?
  • Welche ist die optimale Bestandshöhe für die zu lagernden Artikel?

Nach Ablauf der dritten Phase sind ggf. Korrekturen der zuvor getroffenen Entscheidungen erforderlich. So kann z.B. die vom Lieferbereitschaftsgrad abhängige optimale Bestandshöhe unter dem Eindruck zu hoher Lagerhaltungskosten rückwirkend dazu führen, dass ein Produkt doch nicht gelagert werden soll.

Mit der ersten und gleichzeitig umfassendsten Stufe des Entscheidungsprozesses gestaltet man den Handlungsspielraum für die beiden nachfolgenden Stufen. Für Produkte, die bisher schon Bestandteil des Artikelsortiments waren, ist es unerlässlich, mittels einer Klassifizierung nach ABC- / XYZ-Analyse ihre wirtschaftliche Bedeutung und ihr Verbrauchsverhalten zu bestimmen. Die so gewonnenen Erkenntnisse, wie stark ein Artikel zum wirtschaftlichen Erfolg beigetragen hat und wie regelmäßig er in welchen Mengen verbraucht wurde, müssen sodann um Einflüsse wie Trend, Saison, Aktionen, Strukturbrüche und den artikelspezifischen Lebenszyklusabschnitt ergänzt werden. Die wiederkehrende Klassifizierung nach ABC und XYZ bedeutet immer auch die wiederkehrende Sortimentsbeurteilung. Diese lässt Rückschlüsse darüber zu, wo die Schwerpunkte der artikelbezogenen Bemühungen zu setzen sind. Die Analyse bei einem international tätigen Produktionsunternehmen soll hier stellvertretend als Beispiel dienen: Nur 20% der betrachteten Artikel wiesen bezogen auf einen 12-Monatszeitraum überhaupt Verbräuche auf. Von diesen Artikeln fielen wiederum nur ca. 20% in die Klassen der AX-, BX-, AY- oder BY-Artikel (A und B: umsatzstark, X und Y: regelmäßiger Verbrauch, gut prognostizierbar). Diese Artikel konnten 73% des erzielten Umsatzes auf sich vereinigen. Nur 5% des Umsatzes entfielen auf die sogenannten C-Artikel, die allerdings 60% der Artikel mit Verbrauch ausmachten. Hier zeigte sich ein dramatisches Missverhältnis zwischen planerischem und administrativem Aufwand auf der einen und der Ertragskraft dieser Artikel auf der anderen Seite. Für die Entscheidung, ein Produkt im Artikelsortiment zu behalten oder gar neu aufzunehmen, müssen aber weitere Aspekte berücksichtigt werden. So stellen sich z.B. folgende Fragen:

  • Wie gut ist die Lieferantenperformance? Wie lassen sich Einkaufskonditionen gestalten?
  • Welche Auswirkungen hat ein Produkt auf Fertigungsverfahren, Kapazitäten und Ressourcen?
  • Welche Chancen hat das Produkt am Markt? Lassen sich die Chancen durch Einsatz von Absatzinstrumenten steigern? Gibt es sortimentsergänzende Produkteigenschaften, z.B. als Kaufalternative?
  • Ist ein C-Produkt ggf. attraktiv, weil es einen hohen Deckungsbeitrag liefert?
  • Wird die rechtzeitige Eliminierung ertragsschwacher Produkte in der langfristigen Beurteilung von dem Angebot neuer Produkte begleitet?
  • Ist ein neues Produkt eine Marktneuheit oder “nur” eine Betriebsneuheit? Gibt es Produktionsinterdependenzen (z.B. Kuppelproduktion)?

Interessant ist, dass in diesem Stadium der Artikelsortimentsgestaltung die anstehenden Fragen häufig zur Chefsache erklärt werden, obwohl die Steuerung des Sortiments dem Produktmanagement obliegt und die Produkt- bzw. Marktkenntnisse ebenfalls dort und im Vertrieb anzutreffen sind.

Steht die Zusammensetzung des Artikelsortiments fest, gilt es die Frage zur Lagerung oder Nichtlagerung von Artikeln zu beantworten. An dieser Stelle treten als ertragsmindernde Komponente neben dem planerischen und administrativen Aufwand massiv die Lagerhaltungskosten in den Vordergrund. Auf das oben angeführte Beispiel bezogen entfielen 25% der Bestände auf Z- und Z2-Artikel (Z: sporadisch mit stark schwankenden Mengen, Z2: in weniger als der Hälfte der Monate überhaupt verbraucht; eingeschränkte oder keine Prognostizierbarkeit). Ein noch größerer Anteil des Bestands fand sich in Produkten, die mindestens 12 Monate überhaupt keinen Verbrauch aufwiesen. Hier stellt sich die Frage nach dem Grund der Lagerung, deren Kosten ca. 20% des durchschnittlich gelagerten Bestands oder mehr pro Jahr betragen können. Neben der reinen Analyse müssen auch in dieser Phase weitere Aspekte Berücksichtigung finden, so z.B.:

  • Gibt es garantierte Zeiträume für Nachlieferungen?
  • Gibt es Kundenzwänge (der wichtige Kunde, für den immer ein Lagervorrat besteht)?
  • Ist die dem Kunden zugesagte Lieferzeit kürzer als die eigene Wiederbeschaffungszeit bzw. Durchlaufzeit bei Eigenfertigung oder Montage?
  • Sind Lieferzeitenkataloge, Mindestbestellmengen, Komplettabnahmepflicht und sonstiges durchsetzbar?
  • Welche Lagereinschränkungen und Restriktionen existieren (z.B. Lagerauslegung oder Gefahrstofflagerung)?

Im nächsten Schritt müssen nun die optimalen Bestände zu den Lagerartikeln bestimmt werden. Hierbei lassen sich mittels verteilungsfreier Verfahren die Bestände ermitteln, die bei einer vorgegebenen Soll-Lieferbereitschaft, z.B 98%, im Durchschnitt das Minimum darstellen. Auch hier müssen über die reine Analytik hinaus weitere Informationen ihren Niederschlag finden. Insbesondere Marktkenntnisse, die sich im Schwerpunkt im Vertrieb und der Kundenbetreuung erheben lassen, müssen rechtzeitig in die Absatzplanung und Sortimentsgestaltung einfließen.

Ziele der Sortimentsgestaltung

Das Hauptziel der Sortimentsgestaltung lautet, unter Einhaltung der Wirtschaftlichkeit die Kundenbedürfnisse zu befriedigen und sich von der Konkurrenz abzuheben. Aus der Einhaltung des Wirtschaftlichkeitsprinzips folgen die Subziele, Bestände unter Erreichung einer vorgegebenen Lieferbereitschaft zu reduzieren, den Warenfluss zu verbessern, die Supply-Chain administrativ und planerisch zu entlasten und die Ertragskraft nachhaltig zu stärken. Dabei gilt es insbesondere bei Sortimentsbereinigungen darauf zu achten, dass die Kostenentlastung die Umsatzeinbußen überkompensiert. Obwohl diese Forderung selbstverständlich klingt, zeigt sich doch in der Praxis, dass sie nicht immer eingehalten werden kann. Dies rührt daher, dass die Unternehmen durch Mängel in der Datenqualität vielfach nicht in der Lage sind, die Kosten, die ein Produkt administrativ und in der Lagerhaltung verursacht, zu bestimmen. Als Folge davon kann der Vergleich der Kostenentlastung mit den Umsatzeinbußen oftmals nur ein Schätz- oder Näherungsergebnis hervorbringen.

Abbildung 1: Der iterative Entscheidungsprozess der Sortimentierung
Abbildung 1: Der iterative Entscheidungsprozess der Sortimentierung

1Armin Klüttgen ist Berater der Abels & Kemmner GmbH

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Prof. Dr. Andreas Kemmner

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