von Dr. Bernd Reineke

Globalisierung, weltweit verteilte Niederlassungen und der wachsende unternehmensübergreifende elektronische Datenaustausch überfordern bestehende ERP-Systeme zunehmend. In nächster Zeit steht folglich bei vielen Unternehmen eine Entscheidung über ein neues ERP-System an. Das beste System herauszufinden heißt jedoch, mehr als tausend Kriterien bei über hundert Systemen zu überprüfen. Wir haben unlängst für ein wachstumsstarkes IT-Unternehmen das passende ERP-System binnen drei Monaten herauskristallisiert, ohne den normalen Tagesablauf der Mitarbeiter wesentlich zu belasten.

Das mittelständische IT-Unternehmen mit rund 650 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von 365 Mio. € entwickelt und produziert Komponenten für PC-Systeme sowohl für professionelle Anwender als auch für den SOHO-Bereich (Small Office Home Office) und vertreibt sie von Deutschland aus sowie über seine sieben Niederlassungen in Europa, Asien und USA. Die Beschaffung erfolgt vornehmlich bei führenden Elektronikunternehmen in Taiwan und China. Wegen des starken Wachstums und der zunehmenden Globalisierung des Unternehmens drückte der Schuh beim alten ERP-System zunehmend:

  • Das System bot keine Möglichkeit zur externen Anbindung via Internet für die sieben Auslandsniederlassungen in Europa, Japan, Taiwan und USA, was zunehmend unwirtschaftlich wurde.
  • Erhebliche funktionale Mängel in Disposition, Lagerverwaltung, Service und Bestandsführung hätten nur durch Zusatzprodukte mit entsprechend hohem Schnittstellenaufwand ergänzt werden können.
  • Darüber hinaus basierte das stark modifizierte Alt-System auf einem Dateisystem, das aufgrund des stark angewachsenen Datenvolumens zunehmend instabil wurde, so dass die notwendige Systemverfügbarkeit nicht mehr bzw. nur sehr wartungsintensiv gewährleistet werden konnte.
  • Selbst kleine Anpassungen wären deshalb nur noch mit sehr hohem Aufwand zu bewältigen gewesen.
ERP-Anforderungen
Die Kunst des Auswahlprozesses ist es, die für das Unternehmen bedeutenden Selektionskriterien zu erkennen und bei der Eingrenzung der in Frage kommenden Systeme gezielt anzuwenden. Der Berater hat hier die Aufgabe, Konsequenzen für die Nichterfüllung der Kriterien aufzuzeigen und eventuelle praktikable Ersatzlösungen vorzuschlagen. Dem Anwender kommt das Know-how und die Erfahrung des Beraters zu Gute und kann in sehr kurzer Zeit die richtige Entscheidung treffen

Aus diesen Gründen stand zwingend ein Systemwechsel an, wobei innerhalb von drei Monaten die Entscheidung getroffen werden sollte, um diese wachstums- und performancehemmenden Faktoren möglichst schnell auszuschalten. Das Team, das bisher die Altanwendungen betreute und einen sehr guten Überblick über die Anforderungen der Fachabteilungen hatte, sah sich jedoch außer Stande, im gesteckten Zeitrahmen eine neue Systemauswahl bewerkstelligen zu können, zumal sie das alte System stark in Anspruch nahm. Daher entschied man sich, externe Berater ins Haus zu holen. Bei der Auswahl des passenden Beraters waren umfassende Referenzen besonders wichtig, wie auch die Anwendung einer vielfach bewährten Methodik, wie sie der heutige IT-Matchmaker der Trovarit AG zur anbieterneutralen Softwareauswahl anbietet. Diese laufend gepflegte Datenbank stellt den gegenwärtig aktuellsten Überblick über die relevanten am Markt angebotenen ERP- und PPS-Systeme dar und liefert umfassende Kriterienkataloge zur Systemauswahl.

Bevor diese Datenbank jedoch befragt werden konnte, musste ein Sollkonzept entworfen werden, denn nur so ist der Abgleich mit den potenziellen Lösungen möglich. Hierfür wurde bei Projektstart ein passendes Team gebildet. Neben den Betreuern des Altsystems wurden dabei auch Mitarbeiter aus den Fachbereichen Vertrieb, Auftragsabwicklung, Einkauf, Disposition, Produktion und Service ausgewählt. Auf Basis eines vorangegangenen Projektes, das die Optimierung der Ablauforganisation zum Ziel hatte, lag bereits das mit den Fachabteilungen abgestimmte Soll-Konzept der Organisationsabläufe vor. Die Dokumentation der Prozesse im Hinblick auf die ERP-Auswahl erfolgte durch grobe Aufgabenbeschreibungen und Ablaufdiagramme. Besonderheiten bei speziellen Kundenabwicklungen oder Teilprozessen wurden ebenfalls in der Prozessdokumentation festgehalten.

Auf Basis dieser Angaben wurde zusammen mit den ERP-Spezialisten der Anforderungskatalog mit über 1.000 Kriterien ausgefüllt. Mit diesem Katalog ging es nun an die Vorauswahlphase des passenden ERP-Systems, wobei drei grundlegende Datenbankabfragen gefahren werden sollten:

  • Summe aller Anforderungen zur Auswahl der besten Allround-Systeme
  • Ausschluss der Anforderungen an die Lagerverwaltung mit Hinblick auf die Möglichkeit, ein sonst starkes ERP-System durch eine Extra-Lagerverwaltungssoftware zu ergänzen.
  • Zusätzlich Ausschluss der Anforderungen an die Fertigungsplanung und -steuerung, da insbesondere die Produktion durch spezifische Lösungen im Rahmen der Dokumentation und Seriennummernverwaltung unterstützt werden sollte, welche kaum ein Standardsystem erfüllen kann und voraussichtlich durch eine spezielle Lösung zu ergänzen ist.

Vorauswahl mit der ERP-Datenbank

Die Auswertung des Anforderungskataloges übernahmen wir mit Hilfe der ERP-Datenbank, wie sie heute die Trovarit AG mit IT-Matchmaker anbietet. Als erstes Ergebnis lag eine Aufstellung von 123 ERP-Systemen vor, absteigend sortiert nach dem prozentualen Nutzwert der Allround-ERP-Variante inklusive Lagermanagement und Fertigungsplanung und -steuerung. Besonders bemerkenswert war, dass ein Dutzend der Systeme 80% und mehr der Anforderungen erfüllte. Die Ergebnisse der Varianten 1 und 2 ließen erste Rückschlüsse auf Stärken und Schwächen in den Bereichen Lagerverwaltung und Fertigungsplanung und -steuerung zu. Aber auch die Betrachtung der Erfüllungsgrade von bestimmten Funktionsbereichen wie z.B. Produktionsbedarfsplanung oder Fremdbezugsplanung und -steuerung zeigten deutlich die Stärken und Schwächen der Systeme auf.

Um die Zahl der in Frage kommenden Systeme weiter einzuschränken, wurden weitere Kriterien ausgewertet, die nicht direkt die Systemeigenschaften betrafen, aber für die Auswahl von erheblicher Bedeutung waren:

  • Der Systemanbieter sollte mindestens 40 Mitarbeiter im Bereich Systementwicklung und Systemwartung beschäftigen.
  • Das System sollte bei mindestens 150 Unternehmen im Einsatz sein, um zum einen das Einführungs-Know-how zu belegen und zum anderen die Möglichkeit des Erfahrungsaustausches mit anderen Unternehmen zu gewährleisten.
  • Die branchenspezifische Ausrichtung des Systems sollte der Branchenzugehörigkeit des betrachteten Unternehmens entsprechen.
  • Das System sollte sich in einem Stadium seines Lebenszyklusses befinden, so dass die Investitionssicherheit langfristig gegeben ist.

Auch diese Informationen konnten über die ERP-Datenbank abgefragt und ausgewertet werden. Dadurch reduzierte sich die Zahl der potentiellen Systeme auf 60. Diese Zahl wurde durch gezielte Betrachtung der Nutzwerte der bereits erwähnten Funktionsbereiche weiter reduziert, so dass sich die Zahl der verbliebenen Systeme auf 14 reduzierte. Die Abbildung 2 zeigt die Nutzwerte der 14 Systeme in Bezug auf die drei Varianten.

Bild 2: Engere Auswahl
Bild 2: Engere Auswahl

Die weitere Vorgehensweise konzentrierte sich auf die Prüfung der 14 Systeme hinsichtlich spezieller Funktionen, die sich aus den Sollprozessen ergaben, aber nicht in der speziellen Form über den Anforderungskatalog abgefragt wurden. Von den insgesamt 27 Kriterien sind hier z.B. zu nennen:

  • Aggregation der Absatzplanung nach Gebieten, Kunden und Perioden
  • Verwaltung kundenbezogener Materialdaten
  • EDI-Schnittstellen zu Kunden, Lieferanten und externen Lager
  • Durchgängige Seriennummernverfolgung vom Enderzeugnis bis zum Lieferanten der Komponenten
  • Stücklistenhistorie mit der Angabe ‘ersetzt durch’ und ‘Ersatz für’

Auf Basis dieser Zusatzinformationen klärte sich das Bild über die 14 verbliebenen Systeme und man konnte sich schnell auf vier Systeme einigen die in die nähere Betrachtung kamen. Von großem Interesse war dabei ein Systemanbieter, der den Hersteller des im Einsatz befindlichen Altsystems übernommen hatte und bereits in mehreren Fällen das Altsystem durch sein System abgelöst hatte. Man konnte bei diesem System also davon ausgehen, dass bereits erprobte Schnittstellen zur Übernahme von Stamm- und Bewegungsdaten sowie das erforderliche Beratungs-Know-how vorhanden waren

Endauswahlphase

Die in der Endauswahlphase anstehenden Systemtests wurden mit Hilfe von so genannten Testfahrplänen vorbereitet. Darin waren die Geschäftsprozesse skizziert, die exemplarisch im Rahmen von eintägigen Workshops mit den Systemanbietern am System durchgespielt und beurteilt werden sollten. An den Workshops nahmen alle Projektteammitglieder teil. Dabei gab es auch genügend Gelegenheit, gezielte Fragen zum System und den geforderten Eigenschaften zu stellen. Dies war auch der Zeitpunkt, an dem die zukünftigen Anwender das erste Mal die Systemoberflächen sahen und die Systemanbieter kennen lernten. Für die Systemanbieter war das der Zeitpunkt, sein Know-how unter Beweis zu stellen und seine Flexibilität bzgl. der Anforderungen zu zeigen.

Abb. 1: Projektphasen bei der Auswahl eines ERP-Systems
Projektphasen bei der Auswahl eines ERP-Systems

Um Zeit im Auswahlprozess zu sparen entschied man sich, bereits parallel zu den Systemtests, Referenzanwender der betrachteten Systeme zu kontaktieren und in drei Fällen auch zu besuchen. Die Referenzanwender wurden hinsichtlich Ähnlichkeiten in Branche und Geschäftsmodell seitens der Systemanbieter vorgeschlagen. Die Besuche selbst erfolgten ohne einen Vertreter des Systemanbieters, so dass ein offener Informations- und Meinungsaustausch zwischen Anwender und den Projektteammitgliedern stattfinden konnte. Neben Informationen zu den Systemeigenschaften waren hierbei besonders Hintergrundinformationen zu den Systemanbietern von Interesse:

  • Welche Erfahrungen wurden bei der Einführung gemacht?
  • Wie geht der Anbieter auf Kundenwünsche ein?
  • Welche Erfahrungen gibt es zur Releasepolitik?
  • Mit welchen Reaktionszeiten muss man bei Problemen rechnen?

Die Bewertung der Workshopergebnisse wurde anhand von Schulnoten zu den einzelnen Teilprozessen sowie zu den Systemeigenschaften (z.B. Bedienoberflächen) von Teammitgliedern vorgenommen. Auch diese Ergebnisse wurden wieder tabellarisch zusammengetragen und verglichen. Dabei zeichneten sich zwei Systeme durch gute Noten aus, während die zwei anderen Kandidaten durchgängig schlechte Bewertungen erhielten und damit aus der weiteren Betrachtung fielen. Leider war hier auch der Nachfolger des Alt-Systems dabei. Für den zukünftigen Anwender war dies eine hervorragende Position, um mit den beiden verbliebenen Anbietern in die Verhandlungen zu treten und gute Konditionen zu erzielen. Aber letztendlich entschied nicht nur der Preis dieser Systeme. Es waren strategische Überlegungen, die den letzten Ausschlag für eines der beiden Systeme gaben:

  • Verfügbarkeit von kompetenten Beratern zur Systemeinführung
  • Verfügbarkeit von bereits ausgebildeten Systemanwendern am Arbeitsmarkt
  • Strategische Systemausrichtung für die zukünftige Weiterentwicklung
  • Marktposition des Anbieters

Die Entscheidung

Der Entscheidungsprozess war am Ende so weit fortgeschritten, dass wir eine klare und für alle (auch für den Vorstand!) nachvollziehbare Entscheidung treffen konnten. Der Sieger des Auswahlprozesses erfüllte nicht nur die geschilderten Kriterien sehr gut, sondern bot auch eine integrierte Lösung für die Lagerverwaltung an. Lediglich im Bereich Fertigungsplanung und -steuerung waren die erwarteten Ergänzungen erforderlich. Im Einführungsprojekt verfolgten wir die Strategie, das System im Standard einzuführen und in Betrieb zu nehmen. Anpassungen zur Funktionsergänzung bzw. -optimierung wurden erst danach angegangen. Aber dazu mehr demnächst an dieser Stelle.

Schlussbetrachtung

Durch die standardisierte Vorgehensweise und die Erfahrungen der externen Berater konnte der Auswahlprozess trotz der umfangreichen Inhalte innerhalb der gesteckten Zeit abgeschlossen werden. Durch die Definition der Sollprozesse und den daraus resultierenden Anforderungen gab es bereits von Anfang an eine sehr konkrete Vorstellung über die Möglichkeiten des ausgewählten Systems und die spätere praktische Anwendung. Dies wirkte sich sehr positiv auf den sich anschließenden Einführungs- und Implementierungsprozess aus. Insofern empfiehlt sich immer ein strukturiertes Vorgehen, das in der nachstehenden Grafik nochmals in Kurzform dargestellt ist.

Dr. Bernd Reineke

Dr. Bernd Reineke

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