Die Widerstandsfähigkeit unserer Lieferketten können wir mit vertretbarem Aufwand nur begrenzt steigern.

Können wir mit vertretbarem Aufwand unsere Lieferketten widerstandsfähiger machen?

Unsere Lieferketten haben sich in den letzten Jahren bereits stark gewandelt und weitere stochastische Veränderungen sind zu erwarten. So wundert es nicht, dass die Steigerung der Resilienz der Lieferketten ein wesentliches Thema in den Unternehmen und in Beratungsprojekten ist.

Unsere Lieferketten haben sich in den letzten Jahren bereits stark gewandelt und weitere stochastische Veränderungen sind zu erwarten. So wundert es nicht, dass die Steigerung der Resilienz der Lieferketten ein wesentliches Thema in den Unternehmen und in Beratungsprojekten ist.

Auf langsame kontinuierliche Veränderungen kann man als Unternehmen prinzipiell reagieren, doch kann der erforderliche Aufwand zu groß sein. Noch schwieriger ist es, auf stochastische Veränderungen in den Lieferketten vorbereitet zu sein.

Im Folgenden versuche ich anhand von Erfahrungen und Beobachtungen aus der Supply Chain Managementberatung und zahlreichen Gesprächen mit Führungskräften aus Produktions- und Handelsunternehmen einzuschätzen, wie viel Spielraum wir überhaupt haben, die Widerstandsfähigkeit unserer Supply Chains zu erhöhen. Ich konzentriere mich dabei auf die folgenden fünf Handlungsfelder, die häufig diskutiert werden, wenn es um die Verbesserung der Widerstandsfähigkeit der Supply Chain geht:

  • Absicherung schwankender Transportwege und Lieferzeiten
  • Flexibilisierung der Fertigungsprozesse
  • Besseres Risikomanagement
  • Verschieben der Beschaffungsmärkte und Lieferbeziehungen weg von China, um politischen Unsicherheiten auszuweichen
  • Verschiebungen von Absatzmärkten, um wirtschaftlichen und politischen Unsicherheiten in China auszuweichen
  • Entkopplung von der Weltwirtschaft
 

Absicherung schwankender Transportwege und Lieferzeiten

Die Flexibilisierung der Transportwege und Lieferzeiten steht vor allem dann im Fokus, wenn die benötigten Güter auf dem Seeweg transportiert werden. Störungen auf den Seewegen sind inzwischen mehr zur Regel als zur Ausnahme geworden. Alternative Routen, wie der Einsatz von Bahntransporten statt Seeschiffen oder die Kombination aus Schiff- und Flugtransporten können zwar einen Kosten- und Zeitkompromiss gegenüber dem Flugtransport darstellen, bringen wegen ihrer geringeren Kapazität im Vergleich zum reinen Seetransport aber in Summe nur wenig Abhilfe. Für den Seetransport bleibt somit nur die Wahl alternativer Routen, wie Kap Horn statt des Panamakanals oder das Kap der Guten Hoffnung statt des Suezkanals. Das führt zu beträchtlicher Verlängerung der Lieferketten. Maersk spricht von einer Verzögerung von fünf bis sechs Tagen für die rund 3.000 Seemeilen um Afrika, während das Institut für Weltwirtschaft in Kiel aufgrund empirischer Daten mit einer Verzögerung von zehn Tagen rechnet. Trotzdem bleibt wohl nichts anderes übrig, als diese verlängerten Lieferzeiten in der Materialplanung zukünftig erst einmal zu berücksichtigen.

Chancen die Resilienz zu verbessern: hoch
Kosten die Resilienz zu verbessern: mittel bis hoch

 

Flexibilisierung der Lieferprozesse

In der Coronakrise haben es einige Unternehmen bereits geübt, Konstruktionen und Produktionsprozesse zu ändern, um flexibel auf fehlende Materialien und Komponenten zu reagieren. Niemand macht dies gerne. Es ist riskant in Bezug auf die Produktqualität und oft aufgrund von rechtlichen Regelungen oder erforderlichen Genehmigungsprozessen bei den Kunden kaum möglich. Trotzdem sollte man prüfen, in welchem Maß man Produkte konstruktiv flexibler gestalten und für mehr technische Flexibilität in den Herstellprozessen sorgen kann, um in kritischen Situationen die Lieferfähigkeit aufrechterhalten zu können. Hier kommen neue Anforderungen auf Produktentwicklung, Beschaffung und Fertigung zu. Aber schon aufgrund der ausgelasteten Personalressourcen, werden Veränderungen hier schwierig sein.

Chancen die Resilienz zu verbessern: gering
Kosten die Resilienz zu verbessern: sehr hoch

 

Besseres Risikomanagement

Ein verbessertes Risikomanagement, das Beschaffungs- und Transportrisiken frühzeitig erkennt, gilt heute als unerlässlich. Die Weiterentwicklung der Datenanalytik spielt hierbei eine zentrale Rolle, da sie Unternehmen ermöglicht, Risiken präziser zu identifizieren und entsprechend proaktiv zu handeln. An ihrem Risikomanagement arbeiten fast alle Unternehmen. Heute gibt es viel bessere Möglichkeiten, Risiken zu erkennen als noch vor 10 Jahren, aufgrund der Vielzahl der verfügbaren Daten und Informationsquellen. Allerdings erfordert erkanntes Risiko auch, dass man darauf reagiert. Wie immer diese Reaktion aussieht, seien es höhere Bestände, andere Transportwege, andere Lieferanten, Beschaffungs- oder Absatzregionen, sie werden meist mehr Geld kosten. Diese Investitionen in verringertes Risiko müssen sich für ein Unternehmen in „absehbarer“ Zeit rechnen. Und genau darin liegt das Problem. Wann ein Risiko eintritt, ist nicht „absehbar“, sonst wäre es kein Risiko, sondern ein Ereignis. Somit schärft ein Risikomanagement zwar das Risikobewusstsein, aber führt nicht zwangsläufig zu ausreichender Risikovorsorge.

Ist es aus strategischer Perspektive sinnvoll, über Monate (oder Jahre) hohe Überbestände zu finanzieren, um im Falle einer Versorgungskrise als einer von wenigen Lieferanten seine Kunden noch bedienen zu können? Betriebswirtschaftlich macht das allenfalls Sinn, wenn die Mehrerträge durch die Monopolstellung in der Versorgungskrise, die auf lange Zeit aufgelaufenen Mehrkosten übersteigen. Berücksichtigt man, dass bei den meisten Unternehmen die jährlichen Lagerhaltungskosten zwischen 19 % und 30 % des Bestandswertes betragen und in den Barbeständen wichtige Liquidität langfristig gebunden ist, kann es sinnvoller sein, das Risiko nicht abzufedern, auf die Übergewinne in einer Versorgungskrise zu verzichten und sich notfalls auf Force Majeure zu berufen.

Chancen die Resilienz zu verbessern: gering
Kosten die Resilienz zu verbessern: sehr hoch

 

Verschieben der Beschaffungsmärkte und Lieferbeziehungen weg von China, um politischen Unsicherheiten auszuweichen.

Neben der Verbreiterung der Lieferantenbasis im Allgemeinen, ist die Diversifizierung der Beschaffungsmärkte, weg von der bisher starken Abhängigkeit von China, hin zu alternativen Märkten in Südostasien und Indien, ein schleichender, aber erkennbarer Prozess bei vielen Unternehmen. Ob er an Fahrt gewinnen wird, hängt nicht nur von dem Willen der westlichen Unternehmen ab, sich unabhängiger vom politisch sensiblen Beschaffungsmarkt China zu machen, sondern auch vom Willen der chinesischen Unternehmer, dasselbe zu erreichen und deshalb die Produktion aus China weg zu verlagern. Die Verlagerungsgeschwindigkeit wird auch davon abhängen, wie schnell in Südostasien die erforderliche technologische Kompetenz aufgebaut werden kann und wie sich die wirtschaftliche Lage in China entwickeln wird. Sollte sich die chinesische Wirtschaft nachhaltig nicht erholen, dürfte dies auf die Faktorkosten drücken und den chinesischen Markt wieder ein Stück günstiger machen. Als Folge davon würde die Wettbewerbsposition der übrigen südostasiatischen Länder im Vergleich zu China schwächer werden. Auf jeden Fall wird ein solcher Verlagerungsprozess Zeit benötigen und Prozess- wie Qualitätsrisiken mit sich bringen und nur für einen Teil der benötigten Waren möglich sein.

Chancen die Resilienz zu verbessern: gering bis mittel
Kosten die Resilienz zu verbessern: mittel bis hoch

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Verschiebungen bei Produktions- und Lagerbeständen

In den nächsten Jahren dürfte es zu einer deutlichen Verschiebung von Produktions- und Lagerstandorten kommen, der unterschiedlichste Ursachen zugrunde liegen.

Eine deutliche Verschiebung auf dem gesamten Weltmarkt erleben wir gerade durch die Sanktionen der westlichen Welt gegen Russland.

Die durch Energiekosten ausgelöste und von erratischer Politik beschleunigte Deindustrialisierung in Deutschland führt zur Verlagerung deutscher Produktionskapazitäten ins Ausland. Wenn man die Produktion schon verlagert, dann bewegt man sich nicht innerhalb Europas ein paar hundert Kilometer weiter, sondern führt direkt eine Regionalisierung durch und geht mit der Produktion in die großen Zielmärkte; in vielen Fällen China und die USA. Sich vom Beschaffungsmarkt China unabhängiger zu machen, muss nicht zwangsläufig bedeuten, sich auch vom Absatzmarkt Chinas zu verabschieden. Solange man die chinesischen Erträge nicht benötigt, um die Kosten im Gesamtkonzern querzusubventionieren und man in China nicht für den europäischen Markt produziert, ist das Risiko vermutlich beherrschbar, da man im Notfall das chinesische Geschäft abspalten kann.

Produziert wird woanders – eher mit größerem politischem Risiko – und geliefert wird dann nach Europa, mit den diskutierten Risiken in der Lieferkette. Die Resilienz der gesamten Lieferkette wird dies eher nicht verbessern.

Chancen die Resilienz zu verbessern: gering
Kosten die Resilienz zu verbessern: hoch

 

Verschiebungen von Absatzmärkten, um wirtschaftlichen und politischen Unsicherheiten in China auszuweichen.

Jeder Trend hat ein Ende und kein Baum wächst bekanntlich in den Himmel. Dieses Grundgesetz gilt vermutlich auch für die chinesische Wirtschaft.  Die Zeichen mehren sich, dass sich die Wirtschaftskrise in China verfestigen und die Zeit des schnellen Wachstums vorbei sein wird. Damit wird auch die Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern zurückgehen. Dies führt zumindest potenziell zu einer Verschiebung der Absatzmärkte in Richtung USA und EU. Viele deutsche Unternehmen spüren die Konjunkturschwäche in China bereits und erstaunlich viel Geschäft ist in erstaunlich kurzer Zeit von deutschen und europäischen Unternehmen in den Markt USA umgeleitet worden. Neue Absatzmärkte in Afrika und Südamerika dürften sich eher langsam entwickeln und global betrachtet in den nächsten 10 Jahren noch keine wesentliche Bedeutung gewinnen.

Für manche Branchen besteht eine gute Chance, durch eine Entkopplung vom chinesischen Absatzmarkt Unsicherheiten zu verringern, andere Branchen hängen zu sehr am chinesischen Tropf, um lebend davon loszukommen.

Chancen die Resilienz zu verbessern: je nach Branche null bis mittel
Kosten die Resilienz zu verbessern: unendlich bis mittel

 

Entkopplung der Weltwirtschaft

Eine wirkliche Entkopplung der Weltwirtschaft kann sich niemand von den Führungskräften in der Industrie und im Handel vorstellen, mit dem ich in den letzten Monaten gesprochen habe. Diese Idee kommt eher aus Frankreich. Auch die französische Industrie, insbesondere die für Frankreich so wichtige Luxusgüterindustrie, profitierte in den letzten Jahren von der Globalisierung. Trotzdem scheint man in Frankreich politisch und wirtschaftlich stärker in Richtung Abkopplung und Handelsschranken zu denken. Von einer Entkopplung der Weltwirtschaft kann man aber auch erwischt werden, ohne sie aktiv zu betreiben.

Es lauern zwei Gefahren einer massiven Interruption. Die erste Gefahr besteht darin, dass die USA Europa vor die Alternative stellen wird, „gemeinsam in der NATO und gegen China“ oder „alleine in der NATO und alleine mit China“. Egal wie sich Europa entscheiden würde, es bekäme massive wirtschaftliche Probleme. Die zweite Gefahr bestünde in einem Überfall Chinas auf Taiwan, deren Konsequenzen für alle Seiten unkalkulierbar sind.

Chancen die Resilienz zu verbessern: null
Kosten die Resilienz zu verbessern: sehr hoch bis unendlich

 

Viel Gestaltungsraum haben wir nicht.

Unsere Aufgabe ist es, unsere Lieferketten sowohl widerstandsfähiger als auch effektiver zu machen. Bei den zuvor besprochenen sechs Handlungs- und Gefährdungsfeldern glaube ich jedoch, dass unsere Möglichkeiten, die Resilienz unserer Lieferketten zu einem akzeptablen Preis zu erhöhen, angesichts der aktuellen Lage und der vorhersehbaren und befürchteten globalen Entwicklungen eher begrenzt sind.

Es gibt noch viele weitere Ansatzpunkte, Supply Chains widerstandsfähiger zu machen. Welche davon nehmen Sie in Angriff und wie bewerten Sie Ihre Chancen dort?

Was wird das Lieferkettengesetz bewirken, außer zuverlässig die Bürokratie zu erhöhen?

Keine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, aber Veränderung der Lieferanten- und Kostenstrukturen.

Zuerst einmal, könnte man meinen, trifft das Lieferkettengesetz die fernen Lieferanten, die nicht nach ethischen Standards arbeiten und zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen gezwungen werden. Ich halte es aber für sehr wahrscheinlich, dass die Arbeitssituation nicht viel besser werden wird. Vielmehr wird es zu einer Segmentierung der Lieferanten kommen, in größere Zulieferer, die noch nach Europa liefern und andere, größere, wie kleinere, die ihre Produkte in anderen Teilen der Welt absetzen.

Genauso dürfte es naiv sein zu erwarten, dass nur große Unternehmen in Europa von den Anforderungen betroffen sein werden; es wird auch die kleineren betreffen. Die kleineren Unternehmen werden als Zulieferer der größeren zwangsläufig auch den Zwängen des Lieferkettengesetzes unterworfen. Dies dürfte tendenziell dazu führen, dass auch im europäischen Teil der Supply Chain größere Unternehmen als Lieferanten bevorzugt werden, für die es einfacher ist, die erforderlichen Nachweise zu erbringen und die die erforderlichen Kosten leichter tragen können. Wie stark diese Effekte wirken werden, dürfte in zwei bis drei Jahren besser zu erkennen sein als heute.

Wenn der Effekt wirkt, dürfte er für die europäischen Lieferanten die Beschaffungsmärkte enger machen, damit den Lieferantenwettbewerb verringern, die Beschaffungspreise steigen lassen und das Bestreben, die Lieferantenbasis zu verbreiten, eher erschweren.

Chancen die Resilienz zu verbessern: gering

Prof. Dr. Andreas Kemmner

Prof. Dr. Andreas Kemmner